Im Dutzend billiger? Zur DIN EN ISO 20607

Gerade erst hat itl die TOP 11 der Normen und Richtlinien als Beitrag der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und dann das. Es ist wie so oft: Aus Sicht eines Informationsherstellers kann man durchaus nachvollziehen, warum etwas gemacht wurde. Aber außer sogenannten „menschlichen“ Aspekten, dass da eine Gruppe von Menschen mit anderen nicht kann oder will, fällt mir kein nachvollziehbarer Grund ein, warum neben der DIN EN IEC 82079 nun die neue Norm 20607 mit völlig anderer Nummerierung, aber nahezu gleichem Inhalt präsentiert wird – mit anderen sprachlichen Schwierigkeiten und anderen, aber ebenfalls schwerwiegenden terminologischen Widersprüchen.

Vor wenigen Wochen tauchte dieser Normentwurf zur Kommentierung im DIN Normentwurfsportal auf. Im Selbstverständnis der Norm gilt: „Dieser Norm-Entwurf konkretisiert einschlägige Anforderungen von Anhang I der EU-Maschinenrichtlinie 2006/42/EG an erstmals im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) in Verkehr gebrachte Maschinen, um den Nachweis der Übereinstimmung mit diesen Anforderungen zu erleichtern.“

Nun wissen die Autoren, dass die Norm 82079 existiert, deren Anspruch aber ebenfalls diese Konkretisierung ist. Aber „Die Sicherheitsspezifikationen für Maschinen in diesem Dokument sind präziser als die in IEC 82079-1.“ Neben der unglücklichen Formulierung „Sicherheitsspezifikation für Maschinen“, weil mir unklar ist, was damit gemeint sein soll, hätte man auf die Präzisierung bei der 82079 drängen sollen, denn die wird ja gerade grundlegend überarbeitet. Stattdessen bringt man gleich eine neue Norm heraus.

  Kapitel 82079 20607 Bemerkung
1 Anwendungsbereich Alle Arten von Gebrauchsanleitungen Spezifiziert keine Details zum Umfang, da für alle Arten von Produkten gedacht Direkter Bezug zu 12100 Teil 6.4 Benutzerinformationen Behandelt den sicherheitsbezogenen Inhalt, die dazugehörige Struktur und Darstellung in der Betriebsanleitung Zwar redet 20607 laufend von „sicherheitsbezogene Inhalten“, spezifiziert dann jedoch Betriebsanleitungen generell
2 Normative Verweisungen 3864, 7010, 12100, 9241 3864, 12100 Normenreihe 3864: Sicherheitsfarben und Sicherheitssymbole 7010: Registrierte Sicherheitszeichen 12100: Sicherheitsgrundnorm für Maschinen Normenreihe 9241: Ergonomie der Mensch-System-Interaktion
3 Begriffe Zahlreiche Definitionen u.a. Fachkraft, Zielgruppe usw. Nur zwei Begriffe: Maßnahme zur Risikominimierung, schutzbedürftige Benutzer In beiden Normen ist eine redaktionelle Überarbeitung dringend nötig
4 Unterschiedliche Kapitelüberschriften Prinzipien Kurzbeschreibungen und allgemeine Informationen Insbesondere bei der 20607 zum Teil falsche Begrifflichkeiten und ein Sammelsurium unterschiedlichster Themen
5 Inhalt Inhalt von Gebrauchsanleitungen Nur implizite Darstellung einer Anleitungsstruktur Inhalt und Struktur der Betriebsanleitung Konkrete tabellarische Darstellung einer Anleitungsstruktur Eigentlich benötigt man eine gemeinsam überarbeitete Darstellung des Inhalts aus beiden Normen. Insgesamt zeigt die 20607 gegenüber der bisherigen 82079 eine bessere Auflistung der Anleitungsinhalte
6 Gestaltung Gestaltung von Gebrauchsanleitungen „Gebrauchsanleitungen, die auf elektronischen Medien präsentiert sind, zum Beispiel online oder auf einer Bildschirmdokumentation (siehe 6.7), müssen mit den Anforderungen der Normenreihe ISO 9241 übereinstimmen.“ Völlig verunglückt erscheint mir der Satz „In den meisten Fällen, wie z. B. bei Verbraucherprodukten, ist eine gedruckte Version der Gebrauchsanleitung notwendig. Eine ausschließliche Bereitstellung der Gebrauchsanleitung in elektronischer Form ist in vielen Fällen nicht zulässig, z. B. hinsichtlich der Einhaltung rechtlicher Anforderungen.“ Welche rechtlichen Anforderungen sollen das sein? Sprache und Formulierung/Styleguide Kein Eingehen auf elektronische Dokumentation Die 20607 thematisiert neben der Erwähnung von „elektronischen Datenträgern“ keinerlei Ergonomie jenseits vom Papier (außer des Begriffs „Bildschirmseite“). Die Norm geht nicht einmal auf folgenden Satz der 12100 ein: „Wo die Benutzerinformation in elektronischer Form vorliegt (z. B. CD, DVD, Tonband), müssen sicherheitsbezogene Informationen, die schnelles Handeln erfordern, zusätzlich immer gedruckt und sofort zur Verfügung stehen.“ Bei der 20607 wird in Kapitel 6 nur Sprache thematisiert und die optische Gestaltung kommt nur im Anhang B (Informativ) „Darstellung und Formatierung“ vor. Dort werden vor allem die Typografie-Tabellen der 82079 zitiert. Die auch genannte pauschale besondere Hervorhebungspflicht für Warnhinweise steht übrigens im krassen Gegensatz zur so berühmten Norm ANSI Z535.6. – Warum eigentlich?
7 Unterschiedliche Kapitelüberschriften Bewertung der Konformität mit diesem Teil der Normenreihe 82079 Formen der Veröffentlichung. Erstmals wird (allerdings ohne Erklärung) die Bereitstellung auf Papier dem elektronischen Datenträger gleichgestellt. Internet-Links werden nicht thematisiert Formen der Veröffentlichung werden bei der 82079 in Kapitel 6 weit detaillierter vorgestellt als im viel zu kurzen Kapitel der 20607 (4 Absätze mit kurzen Listen). Bei 20607 kein Bezug zur 9241. Die Norm 20607 geht auf die Ergonomie/Usability elektronischer Informationen überhaupt nicht ein
  Anhänge u.a. Bewertung einer Gebrauchsanleitung Checkliste Effektivität der Kommunikation Planung der Erstellung Anhang A (Informativ) Übereinstimmung von ISO 12100:2010, 6.4 Anhang B (Informativ) Darstellung und Formatierung Anhang C (Informativ) Zahlreiche Tipps zur Sprache Interessant ist, dass 20607 Darstellungen als reinen Empfehlcharakter definiert

Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autoren der 20607 von der 82079 ausgegangen sind und lediglich einen stärkeren formalen Bezug zur 12100 herstellen wollten. Leider haben die Autoren das strukturelle und sprachliche Chaos der 82079 regelrecht „verschlimmbessert“. Die bessere Darstellung der Gesamtstruktur einer Anleitung (zum Teil jedoch mit unmöglicher Begrifflichkeit) und die tabellarische Auflistung von Formulierungsempfehlungen macht den insgesamt schlechten Eindruck nicht wett.

20607 hätte eine sinnvolle Ergänzung sein können, wenn sie mit der 82079 abgestimmt wäre und nur das Sicherheitskapitel einer Betriebsanleitung und die Warnhinweise detailliert spezifiziert hätte. 20607 verweist informell auf die 82079 und zitiert deren Schriftgrößentabellen und glaubt präziser zu sein durch noch mehr (aber doch zwangsweise) unvollständige und eher unsystematische Auflistungen von inhaltlichen Details. Auch der Hinweis auf die 12100 und explizit auf die Maschinenrichtlinie ist leider keinerlei Güte- oder Präzisionskriterium.

Die Norm 82079 verweist wenigstens auf Ergonomieaspekte von elektronischen Anleitungen, insbesondere durch den normierten Verweis auf die ISO 9241 Reihe, was ich zunächst nur begrüßen kann. Für die wichtigsten 9214-Normen müsste aber sehr viel Operationalisierungsarbeit geleistet werden, um die generischen Spezifikationen zur Mensch-System-Interaktion (insbesondere 9241-11, 9241-112, 9241-110) auf den Nutzungskontext von elektronischen Anleitungsinformationen zu adaptieren.

Für mich sind Normen wichtige Werkzeuge, um meiner Arbeit einen gewissen formalen Stellenwert geben zu können. Die bisherige Ausrichtung und die unglückliche inhaltliche und sprachliche Gestaltung der Norm 20607 ist keine Hilfe, nur Arbeitserschwernis. Für Normenhersteller mag es egal (oder ökonomisch sinnvoll) sein, dass mehrere Normen zum gleichen Thema existieren. Für Normen-Anwender ist der aktuelle Zustand ein echtes Ärgernis, da man mühsam in beiden Normen insbesondere die „Muss-Formulierungen“ identifizieren muss. Allerdings sind die Muss-Formulierungen in beiden Normen völlig unsystematisch den anderen Formulierungsarten (sollten, können, dürfen) gegenübergestellt.

Dazu passt leider, dass eine Mitarbeit bei der sprachlichen Überarbeitung der Norm 20607 alles andere als einfach ist: Man kann sich zwar im Entwurfsportal anmelden und Feedback geben, aber die technische Gestaltung des Feedbacks – vordergründig einfach über Formularfelder je Abschnitt – funktioniert wie der Blinker eines Autos („geht, geht nicht“) oder auch nur einmal bei Neustart des Browsers.

Schade: Einmal mehr wird eine gute Idee (Normen an und für sich) meiner Meinung nach gerade unfreiwillig ins Gegenteil verkehrt … und das kann mir nicht egal sein.

Die 82079 wird gerade mit Unterstützung der tekom massiv überarbeitet. Hoffentlich ist sie wenigstens „ein neuer Stern am Himmel der Doku-Normen“ (in Anspielung auf den Blogbeitrag „DIN EN ISO 20607 – ein neuer Stern am Himmel der Doku-Normen?“ von tecteam.

Noch Fragen? Kontaktieren Sie Andrea Wagner

Abteilungsleitung Technische Dokumentation  

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Kommentare

Kommentare

[23. Juli 2018]

Hallo Herr Pusmaz, die überarbeitete Norm 82079 wird, sagen wir,

strukturell und begrifflich viel eindeutiger. Ein Kollege hat sie jedoch ebenfalls als sprachlich nicht akzeptabel bezeichnet.

Normen sind ein - manchmal durchaus fragwürdiger - Kompromiss von vielen auch emotional engagierten Beteiligten. Daher wird wohl kaum eine Norm wirklich "wie aus einem Guss" wirken (können).

Die Benutzerfreundlichkeit (Usability) ist weitgehend vom Normendesign bestimmt, und das ist bei DIN-Normen durchweg schlecht. Leider werden Normen nicht als Werkzeug für Praktiker laufend einem Usability-Review unterzogen - das ist sehr schade!

[11. Juli 2018]

Danke!

Hallo Herr Gust,

habe Ihren Artikel mit Interesse gelesen. Als junger technischer Redakteur fehlt mir ab und an der Überblick über die Normen, aber auch über die Differenzierung zwischen den Normen.

Durch Ihren Artikel konnte ich mir zumindest einen Überblick verschaffen.

Ich hoffe, dass die überarbeitete Norm 82073 verständlicher und benutzerfreundlicher wird.

[22. März 2018]

Betriebsanleitung vs. Betriebsanweisung

Ich habe in meinem Beitrag noch ein wichtiges Thema vergessen, das die 20607 hätte angehen müssen: Die Abgrenzung zwischen Betriebsanleitung als Aufgabe eines Maschinenherstellers und einer Betriebsanweisung als Aufgabe des Betreibers. Leider verwischt die Norm das Thema eher noch, indem sie z. B. fordert: "Gegebenenfalls muss die Betriebsanleitung Informationen zur Handhabung besonderer Notfälle enthalten, wie Betriebsverfahren, das im Fall eines Unfalls oder Ausfalls befolgt werden muss…". Ich kann hier nur warnen, den Betriebsanleitungs-Autoren Aufgaben zuzumuten, die sie weder aus einem sinnvollen Projekt-Budget heraus leisten können, noch überhaupt wissen können, weil in der Regel von bestimmten örtlichen Begebenheiten abhängig. Eine Norm zu bestimmten Sachverhalten, sollte nicht einfach nur Aufgaben anhäufen sondern bewusst auch sinnvoll begrenzen. Auch das ist bei dem bisherigen Normentwurf nicht geschehen.