„Smart Information“ – 570 Jahre nach Erfindung des Buchdrucks
Am Anfang war das Papier
Nachdem Luther seine 95 Thesen an das Kirchenportal genagelt haben soll (das Annageln ist umstritten, aber veröffentlicht wurden die Thesen), war das eines der bedeutendsten Ereignisse in der Frühen Neuzeit mit einer unvorhersehbaren Langzeitwirkung.
Doch zum „Mann des Jahrtausends“, vgl. etwa Spiegel, wurde nicht Luther erhoben, sondern Johannes Gutenberg. Warum? Erst seine Buchdruckentwicklung machte Luthers Informationen „smart“ genug, um die Massen zu erreichen.
Heutige „Smart Information“ verdrängen das Papier
Heute, 570 Jahre später, setzen wir uns noch immer damit auseinander, ob das „Gutenberg-Prinzip“ der gedruckten Information adäquat ist – zum Beispiel auch für technische Informationen. Hat nicht 2007 Steve Jobs mit dem iPhone eine neue „Smart-Technologie“ erfunden, die auch die Nutzung von Informationen, also gerade auch von Anleitungen vergleichbar revolutioniert? Nach Meinung von einigen Experten im tekom-Umfeld, ist man bei Anleitungen auch 2020 nur mit Papier auf der „sicheren Seite“.
Die Praxis zeigt und itl als Beratungsunternehmen stellt klar, dass dieses Festhalten an einer Denkweise aus dem 15. Jahrhundert überholt und auch faktisch weitgehend falsch ist. Papier mag in einigen bestimmten Situationen durchaus das Mittel der Wahl sein. Generell gilt jedoch, dass in unserer „volatilen“, also flüchtigen Welt der permanenten Veränderung, auf Papier gedruckte Informationen gar nicht „smart“ genug sein können:
Wenn eine Information gedruckt vorliegt, ist sie meist schon veraltet. Update-Prozesse via Papier z. B. Loseblattsammlungen nimmt kein Mensch mehr ernst, oder? Nur elektronische Anleitungen lassen sich ggf. einfach und automatisch updaten. Das wissen sogar die Autoren des Leitfadens zur Maschinenrichtlinie: Die Autoren schreiben zwar, dass Sicherheitsinformationen auf Papier mitgeliefert werden müssen, aber die Bereitstellung der elektronischen Anleitung auf der Website erleichtere gegebenenfalls erforderliche Aktualisierungen der Betriebsanleitung. Der Hinweis auf die leichtere elektronische Update-Möglichkeit widerspricht ja eindeutig dem Papierprinzip und so betont der Leitfaden ungewollt die Unsinnigkeit der Papierpflicht.
Logistik-Prozesse erfordern, dass Anleitungen sich besonders bei Consumer-Produkten als aufgeblähte, nur schlecht nutzbare Bücher präsentieren, weil sie alle Sprachen abdecken müssen.
Die Gestaltung moderner Produkte beeinflusst maßgeblich die Möglichkeiten, wie eine gedruckte Information gestaltet sein muss, um sie noch „körperlich“ beifügen zu können. Diese Möglichkeiten haben inzwischen längst zu absurden Dokumentationsgestaltungen geführt, wie „Puppenstuben-Dokumentation“ mit 5-7 Punkt Schriftgröße oder „Tapetengestaltungen“ oder „in Plastik eingeschweißte Dokumentsets“. Bei Autos und Motorrädern ist beispielsweise nicht mehr genug Platz für eine vollständige, gedruckte Dokumentation aller Funktionen.
Die ausufernde Darstellung von Warnhinweisen und tabellarische Darstellungen, die durch Seitenumbrüche unterbrochen werden, erschweren zum Teil sehr stark das Lesen einer gedruckten Information. In elektronischen Informationen dagegen können Warnhinweise automatisch reduziert dargestellt werden, z. B. auf eine Zeile mit der Darstellung von Art und Quelle einer Gefahr. Dann kann ein Anwender sich nach Bedarf die volle Gestaltung nach dem SAFE-Prinzip (Signalwort, Art und Quelle der Gefahr, Folgen bei Nichtbeachtung, Entkommen) anzeigen lassen.
Tabellen könnten automatisch so ausgegeben werden, dass die Kopfzeile statisch positioniert bleibt und man durch die einzelnen Tabellenzeilen scrollen kann.
Elektronische Informationen bieten also eine völlig neue Palette an Möglichkeiten, um die Informationen dem Anwender wirklich smart darzustellen. Grundsätzlich ist eine elektronische Information über das Smartphone des Anwenders immer aktuell verfügbar, die entsprechende Bereitstellung durch den Hersteller natürlich vorausgesetzt.
„Smart Information“ für Technische Dokumentation in den 2020er-Jahren bedeutet daher zunächst die Befreiung aus vermeintlichen Papierzwängen gemäß Standards, Gesetzen und EU-Kommission.
Gesetzliche Pflicht für gedruckte Anleitungen ist ein Mythos
Eine Papierpflicht wurde bereits durch mehrere deutsche Gerichtsurteile verneint und kein einziges Urteil thematisiert eine unbedingte Papierpflicht. Dennoch warnen manche Experten die Produkthersteller unermüdlich davor, dass eine reine Online-Bereitstellung nicht zulässig sei. Als Begründung für eine vermeintliche Papierpflicht dienen vor allen Dingen die folgenden zwei Fundstellen:
Blue Guide der EU, Abschnitt 3.1 Hersteller, Fußnote 100: „(100) Sofern in spezifischen Rechtsvorschriften nicht anders festgelegt, müssen die Sicherheitsinformationen zwar auf Papier vorgelegt werden, aber es wird nicht verlangt, dass alle Anleitungen ebenfalls auf Papier vorliegen; sie können auch elektronisch oder in einem anderen Datenspeicherungsformat bereitgestellt werden. Allerdings sollte Verbrauchern, die dies wünschen, immer kostenlos eine Papierversion zur Verfügung gestellt werden.“
Einerseits öffnet der Blue Guide hier den Weg in Richtung Online-Anleitungen, erwähnt aber, dass Sicherheitsinformationen auf Papier vorgelegt werden müssten – als wäre dies selbstverständlich.
Leitfaden der Maschinenrichtlinie §255 Die Form der Bedienungsanleitung: „Die Form der Betriebsanleitung wird in Nummer 1.7.4 nicht festgelegt.“
(Hinweis: Nummer 1.7.4 im Anhang 1 der Maschinenrichtlinie legt die Einzelheiten der Betriebsanleitung fest.)
Der Leitfaden bestätigt also, dass die Maschinenrichtlinie selbst die Form für Betriebsanleitungen nicht vorschreibt. Aber direkt darauf folgen diese Aussagen:
„Der allgemeine Konsens lautet, dass sämtliche Anleitungen, die für Sicherheit und Gesundheitsschutz relevant sind, in Papierform mitgeliefert werden müssen, da nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Benutzer Zugang zu einem Lesegerät für das Lesen einer in elektronischer Form oder auf einer Website zur Verfügung gestellten Betriebsanleitung hat. Häufig ist es jedoch hilfreich, die Betriebsanleitung in elektronischer Form und im Internet sowie in Papierform zur Verfügung zu stellen, da der Benutzer damit die elektronische Fassung bei Bedarf herunterladen und sich wieder ein Exemplar der Betriebsanleitung beschaffen kann, falls das Papierexemplar verlorengegangen ist. Diese Vorgehensweise erleichtert auch gegebenenfalls erforderliche Aktualisierungen der Betriebsanleitung.“
Dieses Zitat stellt formal eine reine Empfehlung dar und bestätigt, dass elektronische Anleitungen das bessere Konzept darstellen.
Der „allgemeine Konsens“ wird nirgendwo begründet oder erläutert. Doch selbst wenn dieser Konsens gegeben wäre, widerspricht sich der Leitfaden in seiner Forderung nach Papier selbst:
Wenn die Papierform verpflichtend ist, kann keine elektronische Fassung als vollwertiger Ersatz dienen – weder für die mitgelieferte Betriebsanleitung noch für Aktualisierungen.
Einzelheiten zur Klarstellung des Mythos kann man dem neuen itl NormenGuide von Mai 2020 entnehmen (hier geht´s zur Bestellung des itl NormenGuides).
Das Beispiel Peugeot
Der Automobilhersteller Peugeot hat als eine der ersten Firmen öffentlich entsprechende Konsequenzen gezogen:
„Wo erhalte ich eine Bedienungsanleitung?
Bei Neuwagenauslieferung erhalten Sie in gedruckter Form eine Anleitung für die ersten Schritte „Startbereit“, sowie eine Kompaktversion der Bedienungsanleitung, in der die wichtigsten Funktionen beschrieben sind.
Eine umfangreiche gedruckte Bedienungsanleitung bieten wir aufgrund des sich wandelnden Marktes und der damit verbundenen sinkenden Nachfrage für neue Modelle nicht weiter an. Fragen zur Verfügbarkeit von gedruckten Versionen beantwortet Ihnen gerne Ihr Vertragshändler vor Ort.
Da immer weniger Kunden die gedruckte Komplettversion der Bedienungsanleitung nutzen, setzen wir aus Gründen des Umweltschutzes und der komfortablen Nutzung künftig auf die digitale Version.
Es besteht keine rechtliche Verpflichtung zur Lieferung einer gedruckten Version."
Als Berater erlebe ich erst jetzt den gaaanz vorsichtigen Wechsel in Richtung online. Die letzten 10 Jahre bin ich gefühlt von einigen tekom Experten eher gesteinigt als gelobt worden zu dem Thema. Der wirklich grundlegende (zumindest im tekom Umfeld) Wechsel ist erst durch folgendes Positionspapier geschehen: www.tekom.de/technische-kommunikation-das-fach/wichtige-normen-der-technischen-kommunikation/standard-titel. Das Papier wurde gerade eben erst veröffentlicht! Grüße zurück
Walter Fischer
[29. Oktober 2020]
Dr.
Hallo Dieter, ich dachte das Thema mit dem Papier in der TD wäre längst durch?! Das haben wir doch schon vor mehr als 19 Jahren ausgiebig diskutiert? Grüße von Bodensee
Dieter Gust
[07. September 2020]
Der Tipping Point
Dass in bestimmten Situationen, etwa beim Auspacken eines Konsumergerätes, sich die meisten eine gedruckte (Kurz-)Anleitung wünschen, liegt meiner Meinung nach nur zum Teil am offensichtlichen Vorteil des sofortigen Zugriffs auf die gedruckte Information: Der Online-Zugriff müsste halt per QR-Code oder ähnlichem ja nur optimiert werden. Das Hauptproblem liegt in den Köpfen von manchen Experten und Redakteuren, die ein User Experience Design (UXD) für technische Informationen nur auf vermeintliche gesetzliche Bestimmungen (ob sinnvoll oder nicht) reduzieren wollen oder müssen. Oder: Was 550 Jahre das Mittel der Wahl war, kann sich doch nicht plötzlich ändern? Doch kann es! Und dafür gibt es auch den Begriff "Tipping Point" de.wikipedia.org/wiki/Tipping-Point.
Bernhard Schulze
[02. September 2020]
Tendenz Papierlos
Das liegt komplett auf meiner Linie! Wikipedia hat es ja auch vorgemacht, wie Informationen digital verfügbar gemcht werden können. Mit den heutigen Mitteln wie iPads, Laptops etc. sind elektronische Nachschlagewerke immer und überall griffbereit.
Ganz um Papier herumkommen wird man wohl nie, und das komplett papierlose Büro wird es auch nie geben - zumindest werden wir das nicht mehr erleben.
Gerade die aktuelle Situation hat uns wieder deutlich vor Augen geführt, wie wichtig mittlerweile ein digitaler Informationsfluss in der heutigen Zeit ist.
Meine Intention war schon immer und wird es immer sein: Tendenz Papierlos.
Dieter Gust war von 1986 bis 2022 bei itl. Er legte seinen Schwerpunkt auf die Themen Prozessautomatisierung, kontrollierte Sprache und nutzungsgerechte Aufbereitung von Dokumentation. Seit Mai 2020 ist Dieter Gust TÜV-zertifizierter Professional Scrum Master und Product Owner.
Anleitungen sind heute oft eine eher lästige, vermeintliche juristische Absicherung auf Papier. Anleitungen die effiziente Werkzeuge mit einer positiven Benutzererfahrung darstellen wollen, bedürfen eines komplett neuen Denkansatzes durch die Informationsplaner. Dieser neue Denkansatz heißt „User Experience Design – UXD“.
Was verbindet die „Papierpflicht“ für Technische Dokumentation mit der berüchtigten und belächelten EU-Verordnung 1677/88, allgemein als EU-Gurkenverordnung bekannt, und was trennt sie? Der Unterschied: Die Gurkenverordnung war eine offizielle EU-Qualitätsverordnung, die Salatgurken in normierte Dimensionen brachte und 2009 wieder aufgehoben wurde. Eine gesetzlich verordnete Papierpflicht für Technische Dokumentation gab es dagegen nie und konnte somit auch nicht abgeschafft werden. Die Gemeinsamkeit: Gurken liegen nach wie vor gerade gebogen und akkurat auf Länge gebracht in den Gemüseregalen und eine angebliche Papierpflicht für Technische Dokumentation scheint unentreißbar im kollektiven Bewusstsein verankert
Offenbar fehlt den Autoren die Vorstellung, dass eine elektronische Anleitung, richtig umgesetzt, eine weit bessere User-Experience bietet als es Papieranleitungen je bieten könnten. Gerade bei Consumer-Produkten ist doch die Anleitung als Papierprodukt oft bis zur Lächerlichkeit verbogen worden.
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