Wird es 2084 noch Anleitungen geben?

(Dieses Streitgespräch veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von Kornelius R. Böcher, der es ursprünglich auf seiner Webseite boedoc.de gepostet hat.)

  • Erfahren Sie in diesem Gespräch, wie das Internet of Things auch die Technik-Dokumentation verändern könnte
  • Erfahren Sie weiterhin, warum es in dieser Hinsicht auch wichtig ist, sich den eigentlichen Zweck von Dokumentation neu vor Augen zu halten
  • Das Gespräch macht – zwischen den Zeilen – Vorschläge, wie Sie sich den neuen Herausforderungen stellen können und gibt Ihnen Anregungen für Ihre eigene Dokumentationspraxis.

Über das Thema hat WEKA-Herausgeber Kornelius R. Böcher mit Dieter Gust, Leiter Forschung & Entwicklung bei der itl AG in München, diskutiert. Die Meinungen der Gesprächspartner gehen an manchen Punkten auseinander, aber das macht gerade die Spannung des Gesprächs aus. Letztlich liegt jedoch beiden ein gemeinsames Anliegen am Herzen: daran mitzuwirken, dass sowohl Anleitungen, als auch ihr Ruf sich weiter verbessern.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint demnächst im Praxishandbuch „Technische Dokumentationen“ bei WEKA Media.

Kornelius R. Böcher, Technik-Redakteur in einem Maschinenbauunternehmen und langjährige Erfahrung als Dienstleister für Technik-Dokumentation. Im Zusammenhang mit früheren zahlreichen Optimierungsprojekten für den TÜV Süd Product Service hat er schon geraume Zeit mit normativen Aspekten zu tun, besonders im Hinblick auf die DIN EN 82079-1. Als Herausgeber und Autor dieses Praxiswerks beschäftigt er sich laufend mit den verschiedensten Themen und Trends, die er akribisch recherchiert und aufbereitet. Als Bücherwurm ist er darüber hinaus generell am Fortbestand des Papiers als Informationsträger interessiert, zumal wir heute nicht wissen, wie haltbar unsere digitalen Informationen wirklich sind. Er weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass er generell nicht nur für ein bestimmtes Medium votieren möchte. Die Affinität zum Papier möchte er aber nicht bestreiten, daran konnte auch die langjährige Tätigkeit im Softwarebereich und damit „nur online“ zu dokumentieren, nicht viel ändern. Als Nutzer verschiedener Smartphones kennt er die Stärken und Schwächen verschiedener mobiler Systeme und beschäftigt sich u. a. häufig mit Usabilityaspekten.

Dieter Gust, Leitung Forschung & Entwicklung beim Dokumentationsdienstleister itl AG in München. 1986 als Technischer Redakteur gestartet, entwickelte er in den folgenden Jahren eines der ersten Vollzeitausbildungskonzepte für die Technische Redaktion in Deutschland. Im Bereich F&E beschäftigt er sich intensiv mit der Optimierung von Dokumentationsprozessen. Als er erst 2010 von der legendären iPhone-Vorstellung von Steve Jobs erfuhr, erkannte er das iPhone und Steve Jobs Präsentation als die mit Abstand wichtigste, mit geradezu revolutionärem Einfluss auf die künftige adäquate digitale Ausgestaltung von Technischer Dokumentation. Das Einläuten des Zeitalters von Industrie 4.0 wird diesen digitalen Trend nur verstärken.

Als Intensivnutzer des jeweils neuesten Samsung-Smartphones mit weit mehr als hundert Apps erkennt Dieter Gust die Vorteile einer digitalen App-basierten TD. Er sieht sich heute vor allem als Botschafter, Papier im Bereich TD weitestgehend durch Apps zu ersetzen, weil seiner Meinung nach nur so eine optimale Nutzbarkeit bei optimalem Preis-Leistungs-Verhältnis erreichbar sei. Dabei verkennt Dieter Gust nicht, dass eine Medienwahl für Technische Dokumentation im Rahmen der Risikoanalyse des Produkts besonders reflektiert werden muss und für bestimmte Use Cases Papier immer noch die beste oder gar einzige sinnvolle Nutzbarkeit bieten kann. Er selbst bleibt dem Papier übrigens als intensiver Romanleser treu.

Dieter Gust unterstützt Unternehmen dabei, Dokumentationskonzepte für das Zeitalter von Industrie 4.0 zu entwickeln und so auch künftigen Benutzererwartungen gerecht zu werden.

Kornelius R. Böcher

Wenn wir die Euphorie beobachten, mit der Industrie 4.0 und das Internet of Things seit langem angekündigt bzw. forciert und gefeiert werden, kann man den Eindruck bekommen, dass manche eine Art heilsbringenden Effekt von den geplanten Maßnahmen erwarten.

Die Gerätedichte wird sich anscheinend explosionsartig erhöhen und es steht zu erwarten, dass sich analog dazu auch der Bedarf an Anleitungen erhöhen wird. Dabei gibt es immer noch mehr mittelmäßige bis schlechte als gute Anleitungen und wenn sich die Hersteller nicht auf wunderbare Weise doch noch am Riemen reißen, scheint die Katastrophe regelrecht vorprogrammiert. Oder sehe ich das zu schwarz?

Dieter Gust

Industrie 4.0 verlangt vor allen Dingen mehr Kommunikation, die in die Geräte integriert ist und kontextsensitiv agiert. Ich nenne das „digitale Benutzerassistenz“. Ein individualisiertes Auto, das seinen Anwender „erkennt“ und selbst „weiß“, was ihm fehlt, etwa „linkes Rücklicht kaputt“ wird sicher nicht lapidar nur darauf verweisen können „lesen Sie die Anleitung“. Also eine Katastrophe ist das per se nicht. Zur Katastrophe kann das werden, wenn die Kommunikations-Use-Cases nun nicht wie bei guter Softwareentwicklung üblich vorausschauend durchgeplant werden. Die „Katastrophe“ der klassischen Print- und Online-Dokumentation ist dagegen doch längst da: Entweder die Informationen sind bei Auslieferung der Produkte nicht mehr aktuell oder die Logistik der gedruckten Informationen ist vergleichsweise aufwändig, weil die Informationserstellung nicht genau so automatisierbar ist wie die Produktion selbst. Überhaupt wird der Kostenfaktor Dokumentation auch wegen der Übersetzungen wieder zunehmend als zu beseitigender „Kollateralschaden“ empfunden.

Allein die zum Teil aber absurd wirkende Überbetonung der Notwendigkeit der Dokumentation abgeleitet aus Gesetzen, Richtlinien und Normen rettet zurzeit noch die Doku-Budgets. Dokumentation als vom Hersteller selbst (also dem Geldgeber) so gesehenes wirksames Marketinginstrument ist doch längst ein schlechter Kalauer. Kein Mensch kauft irgendein Produkt eher wegen der Qualität der Dokumentation. Die Sprüche höre ich sehr wohl, aber die Fakten sprechen eine ganz andere Sprache. Es wird Zeit, die eigentliche Rolle der Dokumentation wieder deutlicher hervorzuheben: Dokumentation ist wie der Feuerschutz in einem Haus, ein zurzeit noch notwendiges Übel, das Schlimmeres verhindert, wenn das Übel durch Produkteigenschaften selbst nicht verhindert werden kann. Jede Dokumentation, die man auf Grund einer intuitiven Produktergonomie nicht braucht, ist die bessere Lösung. Dokumentation ist eine Produktsicherheitskomponente, die der laufenden Herausforderung unterliegt, wie man sie noch mehr verringern kann, und das ist ganz ok so.

Die Grundidee, wie mache ich ein Produkt besser nutzbar, ist dagegen gerade bei Industrie 4.0 noch mehr im Fokus. Dabei spielt Kommunikation an der Mensch-Maschine-Schnittstelle eine außerordentliche Rolle. Wie heißt doch ein Motto bei Landmaschinen, das Industrie 4.0 so schön umreißt: „Kunden wollen keine Mähdrescher, sondern gemähte Wiesen“. Umgemünzt auf Dokumentation heißt das: „Kunden wollen keine Anleitungen, sondern digitale Assistenten, die ihnen helfen, ein Problem zu lösen (wenn es die Maschinen schon nicht selbsttätig können).

Doch parallel zu einer möglichen völligen Neuausrichtung der Technik-Dokumentation geht die Bewertung der klassischen Dokumentation und ihrer Erstellung mit einem Preisverfall für Dokudienstleistungen auf dem Weltmarkt einher. Übersetzungen werden nach Asien verlagert, weil sie dort viel billiger eingekauft werden können. Der Technik-Redakteur wird entweder zur Schreibkraft mit entsprechend niedrigem Gehalt degradiert oder ist wieder der Ingenieur, der nebenbei Dokumentation macht. In Großunternehmen gibt es auch andere Ansätze, die haben Technik-Redakteure mit Masterabschluss eingestellt. Aber praktisch managen diese Personen doch überwiegend Gesamtprojekte, um dann „Schreibarbeiten“ möglichst billig auszulagern. Dort wo keine „Rechtskeule“ greift, ist die firmeninterne Doku längst verkümmert und die eigentliche Informationserstellung findet in der „Crowd“ statt. Nehmen wir das Beispiel Microsoft und das Produkt Word. Vor 15 Jahren benötigte Word ein dickes Handbuch mit hunderten von Seiten. Wenn man heute die Online-Hilfe von Word 365 nutzt (gedruckte Dokumentation gibt es nur als kommerzielle Produkte von Drittanbietern zu kaufen) fühlt man sich als Dokumentationsprofi regelrecht „veräppelt“: Nach irgendwelchen „häufig genutzt“-Kriterien, findet man zusammenhanglose Themen, die eigentlich nur wiedergeben, was man sich aus der Benutzeroberfläche auch selbst ableiten kann. Die wirklich verwertbaren Infos finde ich nur in speziellen Word-Foren oder auf YouTube.

Zusammengefasst: Für die klassische Doku sehe ich auch schwarz, als digitale Benutzerassistenz könnte sie jedoch neue Höhenflüge erleben, wenn ihr Mehrwert von den Anwendern auch so gewollt und vom Hersteller rechtzeitig erkannt wird. Solange Rechtsanwälte (eine gedruckte) Dokumentation „vorschreiben“, wird das Thema eher als negativer, aber wegen der Rechtsprechung nicht vermeidbarer Kostenfaktor gesehen.

Kornelius R. Böcher

Wobei die Anleitung zu Microsoft Word ja nicht gerade ein Beispiel ist, das uns weiterhilft. Mir scheint, dass die Leute von Microsoft selbst bereits vor langer Zeit den Überblick über ihr mächtiges Werkzeug verloren haben. Den Technik-Redakteur, der dazu „verurteilt“ wäre, eine komplette Dokumentation zu Word zu verfassen, würde ich zutiefst bedauern. Denn diese Aufgabe wäre ohne Insidertipps und Connections zu Praktikern – was Du ja auch ansprichst – weder psychisch noch wirtschaftlich vertretbar. Word wird ja häufig auch nur noch genutzt, wenn es unvermeidbar ist und weil es so verbreitet ist – und nicht weil es so klasse ist.

Die geschilderten Degradierungen kann ich in meinem Umfeld nicht beobachten – im Gegenteil. Als ich im Sommer wieder mal auf Jobsuche war, habe ich erstaunlich viele und positive Rückmeldungen erhalten und nach wenigen Tagen zwischen den Jobs sofort wieder eine ordentlich bezahlte Stelle gefunden – und das mit über 50!

Wir dürfen bei aller berechtigten Kritik an umfangreicher und dabei in der Praxis in Schränken verstaubender Dokumentation nicht vergessen, dass es im Falle von Maschinen darum geht, im Bedarfsfall umgehend nötige Informationen zu finden und vor Gefahren zu warnen, was für die meisten Consumergeräte nicht in diesem Maße gilt. Wer sein Tablet falsch bedient, wird nicht gleich eine Hand verlieren, was bei einer Maschine mal eben passieren kann. Deswegen kann ein Maschinenhersteller nicht so einfach sagen, wir lassen die Doku jetzt mal weg, weil sie doch nur Geld kostet. Außerdem ist die Doku je nach Vertrag auch Bedingung für die vollständige und termingerechte Bezahlung.

Wir sollten in unserer Diskussion den Fokus nicht zu sehr auf unser Lieblingsthema richten, die Papier-Online-Frage (lacht), sondern mehr den Inhalt und die Herausforderungen diskutieren, die uns und alle, die Dokumentationen erstellen, erwarten. Wenn die Geräte der Zukunft direkt miteinander kommunizieren, Daten austauschen, sich selbst und sich auch gegenseitig konfigurieren, kann das ja heiter werden. Fehlt nur noch, dass sie auch automatisch Anleitungen erstellen und uns zu allem Übel nicht nur die Zeit, sondern auch noch die Arbeit stehlen. Wäre das denkbar?

Dieter Gust

Höre ich da grundsätzliche Technik-Kritik? Informationen als Module und als Topics werden sicher Menschen erstellen, die Zusammenstellung der Informationen zu Handlungsanleitungen kann dann entsprechend von Menschen (!) definierten Regeln durchaus kontextsensitiv und automatisiert erfolgen.

Und Microsoft sehe ich gerade nicht als „dem Chaos geweihtes Unternehmen“. Microsoft war viele Jahre Vorreiter in Dokumentationskonzepten. Microsoft HTML Help ist von der Grundidee nach wie vor weitgehend state of the art. Das Ribbon-Konzept mit der Möglichkeit einer erweiterbaren integrierten Dokumentation (was viele noch nicht gemerkt haben) aber auch der neue Hilfe-Ansatz seit Word 2016 (ein Google-ähnliches Suchfenster, mit kombinierter Suche nach den internen Funktionen und automatischer Suche im Internet)  zeigen ebenfalls von der Idee her interessante neue Richtungen, die sicher nachgeahmt werden. Allerdings wird auch deutlich, dass Microsoft den Anspruch auf eine vollständige Information des Anwenders in Form einer monolithischen Gesamthilfe aufgegeben hat. Und man kann feststellen, dass wegen der fehlenden Dokumentation die Anwender Word sicher nicht den Rücken kehren.

Der Technik-Redakteur müsste endlich wieder Zeit bekommen (oder sich diese nehmen) Nutzungskonzepte von Technik-Dokumentation neu zu überdenken und z. B. soziale Medien bzw. das Internet weit stärker konzeptuell berücksichtigen.

Solange man uns jedoch auf Seitenzahlen pro Stunde reduziert (ich weiß noch wie Redaktionssystemhersteller mit einer erhöhten Seitenzahl pro Minute geworben haben), werden Maschinen uns diese Arbeit auch noch abnehmen.

Kornelius R. Böcher

Das hoffe ich ja nicht, schon genug, dass der Google Translator die Übersetzer arbeitslos macht. Wobei man ganz klar sagen muss, dass die Maschine bei allem Respekt für die inzwischen erstaunlichen Funktionen immer noch dem Genius unseres Geistes hinterherhinkt. Und das wird auch so bleiben, davon bin ich überzeugt. Mir fällt dazu immer wieder der Zauberlehrling ein oder der babylonische Turmbau. Auch die Gefahren, die durch die Möglichkeiten der Technik entstehen können, die sich Obrigkeiten oder selbst ernannte Götter nutzbar machen, stimmen mich abwartend vorsichtig. Wir wissen alle noch nicht, welche Dinge wir damit unbekannterweise mit vorantreiben.

Die neuen Technologien bescheren uns daneben viele neue Bequemlichkeiten, wie das selbstfahrende Auto, was sicher nicht nur zu einer Verkümmerung unserer Muskulatur führen wird. Ich denke da an die Menschen in dem Film Wall-i, die gelangweilt und stark übergewichtig durch den Weltraum düsen. Es wird jetzt schon überlegt, wer bei einer Fehlfunktion und einem Unfall eines autonomen PKW schuld ist. Der Programmierer? Der Hersteller? Der Insasse? Alle zusammen? Welche Restgefahren bleiben? Wird es möglich sein, Restgefahren per Anleitung zu nennen? Wer würde das lesen? Oder werden Warnungen per Display oder über Lautsprecher ausgegeben werden müssen, weil das Handbuch keiner liest?

Dieter Gust

Oh lieber Kollege, jetzt kommen wir ins philosophische und religiöse Fahrwasser. Ich habe überhaupt nichts dagegen, im Gegenteil. Aber im Gegensatz zu Deinem Technik-Pessimismus sehe ich eindeutig den Auftrag, uns die Erde und nicht nur die „untertan zu machen“, aber nicht als selbstherrliche „Götter“, sondern in verantwortlicher Erfüllung der „Schöpfung“ ob religiös, esoterisch oder rein naturwissenschaftlich argumentierend. Ich fände ein Pflicht-Ethik-Studium als Komponente jedes Technikstudiums völlig selbstverständlich. Jede technische Errungenschaft kann zum Gegenteil einer positiven Idee entarten. Und Verantwortung kann auch einmal heißen, beim technischen Fortschritt ein wenig auf die Bremse zu treten. Aber das kann man nicht grundsätzlich definieren, sondern ist eine permanente situative Herausforderung wie das Bremsen beim Autofahren selbst.

Die klassische Dokumentation kann ich auch vor dem angedeuteten philosophischen Hintergrund in ihrer Gesamtheit als „veralteten Ansatz“ empfinden: Manuell getippt und „gemalt“ und zusammengetragen, spiegelt sie als aufwändiges, teures Produkt dennoch längst nicht mehr die typische Erwartungshaltung ihrer gedachten Zielgruppen wider. Warnungen per Display oder Lautsprecher, weil das Handbuch keiner liest? Ja klar, wo ist das Problem? Die Schuldfrage bei vernetzter Kommunikation mit „gefährlichen“ Fehlfunktionen eines Produktes als schwieriges Thema? Na klar, das müssen wir gedanklich durchspielen. Auch das ist doch kein Thema, das die Technik-Kommunikation in Frage stellt, lediglich die klassische Papierdokumentation. Es ist doch gerade eine spannende intellektuelle Herausforderung, endlich Multimodalitäten und Multimedia angehen zu können. Und mit Blick auf die Rolle eines Handbuches im Sinne der juristischen Absicherung: Es gibt klare Urteile, dass eine Technik-Dokumentation nur dann als „Sicherheitsaspekt“ durch Warnung vor Restgefahren gelten kann, wenn dieser Aspekt produkttechnisch nicht anders lösbar ist. Und auch hier gilt: Dem Anwender muss das Lesen der Information „zumutbar sein“.

Kornelius R. Böcher

Ob Technik-Pessimismus das richtige Wort ist? Ich habe bisher nur an der Oberfläche gekratzt. Wir haben uns vielleicht schon daran gewöhnt, dass unsere Luxusartikel, wie Smartphone, Tablets und viele weitere Geräte Stoffe enthalten, nach denen Kinder in Afrika metertief graben müssen. Wer vielleicht meint, der Artikel „Die dunkle Seite der digitalen Welt“ aus dem ZEITmagazin 2/2011 sei inzwischen überholt und die Menschheit müsse doch langsam vernünftig werden, wird eines besseren belehrt nach Lektüre eines WELT-Artikels vom Anfang dieses Jahres mit der Überschrift „Nach diesem Handyrohstoff buddeln Kinder metertief“ sowie dem Bericht von Amnesty International zu diesem Thema. So viel zur „verantwortlichen Erfüllung der Schöpfung“, was sich als Statement immer sehr schön anhört, die Praxis aber spricht solchen Aussagen Hohn. Aber wir kommen schon wieder vom Thema ab (lacht).

Dieter Gust

Aber ich spüre eine fundamentale Technik-Kritik bei Dir, und den Wandel in der Technik-Dokumentation nimmst Du, wie ich das interpretiere, als Verlust wahr. Meiner Meinung nach ordnest Du sowohl der Technik als auch der Technik-Dokumentation eine Bedeutung zu, der beide nicht gerecht werden können: Natur und Technik sind für sich amoralisch, es kommt darauf an, was Menschen daraus machen. Dokumentation ist ein wirtschaftlicher Kostenfaktor, der genauso dem Nutzen-Aufwand-Kosten-Prinzip unterliegt wie alles andere auch. Und da stellt sich die klassische Dokumentation auch wegen der Papierorientierung zunehmend als Problem heraus.

Kornelius R. Böcher

Es wird sicher auf eine Kombination an Medien hinauslaufen, damit möglichst viele Nutzer erreicht werden, also die Stimme aus dem Hintergrund, Informationen per Display, die gute alte Anleitung und – was zu befürchten ist – jede Menge Aufkleber, wenn es sich um gefährliche Geräte oder Maschinen handelt.

Dieter Gust

Ja der Medienmix auf Basis eines unumgänglichen neuen Medienkonzepts für die Technik-Dokumentation wird die Antwort der nächsten Jahre sein. Papier hat nach wie vor seine Berechtigung, vor allen Dingen bei „Initialisierungsmaßnahmen“ wie Auspacken, Zusammenbauen usw. bis man sagen kann: Und nun Gerät und Bildschirm einschalten. Aber damit das neue Medienkonzept in der Technik-Dokumentation greifen kann, müssen wir völlig wegkommen von Seitenzahlen. Es geht um Themen (neudeutsch „Topics“), die sich aus den Handlungs-Use-Cases im Lebenszyklus eines Produktes ergeben: Jeder notwendig erachtete Satz in einer Doku muss ein Auftrag an die Entwicklung beinhalten, wie man sich künftig diesen Satz sparen kann! Technik-Doku muss zum Qualitätssicherungsinstrument für die Produktentwicklung werden. Dass eine interaktive Reparatur-Dokumentation auf Basis von Acrobat 3D und zusätzlichen integrierten Videos 30 % billiger sein kann, als die bisher ausgeführte Papierdokumentation, das muss endlich in die Management- und Redakteursköpfe. Wir müssen moderne Kommunikationskonzepte durch Ergonomieprofis (und das sollten ja Technik-Redakteure sein) entwickeln lassen und die Dokumentationsgestaltung nicht Rechtsanwälten überlassen, deren Berufung sicher nicht die Informationsergonomie ist.

Kornelius R. Böcher

Zu den Juristen fällt mir da spontan der Satz aus Kapitel 7 der DIN EN 60335-1 ein, der mich jetzt aktuell wieder in der Anleitung eines neuen Rasierapparates erschreckt hat. Das ist ein Paradebeispiel für die sture Anwendung juristischer Vorgaben ohne Rücksicht auf die Verständlichkeit eines Textes. Wie mir aus Fachkreisen bekannt ist, darf man diesen Satz auch nicht verändern, z. B. in besser verständliche Teile splitten, sondern muss ihn in seiner ganzen grauenhaften Länge und Verschachtelung unverändert übernehmen. Sonst bekommt das Produkt kein VDE-Zeichen!

Dieter Gust

Du meinst doch nicht diesen Satz „Dieses Gerät ist nicht dafür bestimmt, durch Personen (einschließlich Kinder) mit eingeschränkten physischen, sensorischen oder geistigen Fähigkeiten oder mangels Erfahrung und/oder mangels Wissen benutzt zu werden, es sei denn, sie werden durch eine für ihre Sicherheit zuständige Person beaufsichtigt oder erhielten von ihr Anweisungen, wie das Gerät zu benutzen ist.“

Dahinter steckt ja eine durchaus berechtigte Einschränkung der zugelassenen Zielgruppe für die Gerätenutzung. Aber wie gesagt effiziente verständliche Information ist nicht der Ansatz eines Juristen, sondern andere Juristen ggf. am Verklagen des Produktherstellers zu hindern. Nun ja im neuen Entwurf von 2015 wurde vieles geändert, u. a. auch dieser Satz.

Kornelius R. Böcher

Juristische Aspekte werden sich wohl nicht beiseite schieben lassen und wir werden weiterhin damit leben müssen, dass sich daraus manchmal widersprüchliche und unserer Sache nicht dienliche Szenarien ergeben. Damit meine ich z. B. die Verwendung schwer verständlicher Texte für Anleitungen, deren ureigenstes Anliegen doch die verständliche Vermittlung von Inhalten ist, oder zumindest sein sollte.

Es werden sich hinsichtlich dieses Aspekts auch neue Szenarien ergeben, wenn z. B. Menschen mit Halbwissen neue Technologien nutzen. Welcher Nutzer einer Drohne mit Kamera kennt sich denn z. B. mit fotorechtlichen Aspekten aus? Ist das ein Thema für die Anleitung?

Dieter Gust

Eindeutig ja. Nur werden wir mit dem klassischen Anleitungsbegriff (vor allem in der Vorstellung eines gedruckten auf Vollständigkeit bedachten und damit viel zu teuren und zu aufwändig produzierten Werkes) nicht weiterkommen. Schaffen wir die klassischen Anleitungen doch endlich ab! Definieren wir einen Mix aus (möglichst wenigen) gedruckten Informationen, Diskussionsforen im Internet, Videoanleitungen usw. Halbwissen wird unser ständiger Begleiter sein. Das müssen wir durch permanentes Unterstützen des „Googelns“ begleiten und verringern. Wo ist das Problem?

Kornelius R. Böcher

Puh lieber Kollege, jetzt zupfst Du aber an dem Teppich, auf dem wir beide noch stehen! Wo es Sinn macht, bin ich bezüglich des Medienmix bei Dir. Doch sollte der Inhalt dessen, was Du als „klassisch“ bezeichnest, in diesem Mix zu finden sein. Wenn ich, wie kürzlich geschehen, in der Verpackung eines Headsets für Windows nicht mal einen Hinweis finde, wie ich z. B. die Audioeinstellungen so konfiguriere, dass das System – wie von Headsets mit Micro-Audiosteckern gewohnt – bei Anschluss auf Kopfhörerbetrieb umschaltet, dann macht mich das gelinde gesprochen unzufrieden, weil ich einige Zeit im System nach der Einstellung suchen muss. Den Hinweis, dass ich die Lautstärke nicht zu hoch regeln sollte, weil das auf Dauer zu Gehörschäden führen kann, finde ich nur in einer unendlichen Liste an Warnhinweisen. Ein einfaches Headset benötigt eine immense Liste an Warnhinweisen! Ich dachte, kann das denn wahr sein?!

Der Hersteller ist immer noch verpflichtet, seinem Produkt alle nötigen und nach dem Stand von Wissenschaft und Technik verfügbaren Informationen an die Hand zu geben, damit dieser das Produkt vollständig und sicher bedienen kann. Aber bitte keine Anwendungshinweise, die man sich aus Warnhinweisen heraussuchen muss, die liest sowieso kaum jemand.

Um ein Beispiel aus unserer schönen neuen Technikwelt zu bringen: Unabdingbar wäre aus meiner Sicht auch ein Hinweis, dass bei der Nutzung einer Drohne sowohl Menschen physisch gefährdet werden können, als auch in ihrer Privatsphäre gestört und verletzt werden können, wenn die Drohne mit einer Kamera bestückt ist. Von daher bin ich schon gespannt auf die ersten aktiven Abwehrsysteme, also Geräte, die eine anfliegende Drohne im Vorgarten nicht nur erkennen, sondern auch gleich eliminieren. Da muss der Technik-Redakteur dann z. B. neben den bildrechtlichen auch waffenrechtliche Aspekte in seiner Anleitung berücksichtigen. Da gibt es aktuell durchaus noch große Mängel, wenn ich mir z. B. solche Produkte wie Messer oder Softair-Schießeisen auf herkömmlichen Jahrmärkten anschaue, da weiß der Käufer letztlich ohne genaue vorherige Recherche nicht genau Bescheid, wenn er derlei Produkte für seine minderjährigen Kinder kaufen möchte. Einige wenige Angaben dazu auf der Verpackung, neben der meist vorhandenen Altersangabe, die jedoch nicht ausreicht, könnten dem Informationsmangel schon abhelfen. Mir geht es nur darum, dass wir sensibel sind für solche Aspekte und unsere Unternehmen oder Auftraggeber darauf hinweisen. Nach meinem Verständnis dürfte das eher zu einer weiteren Aufwertung unseres Jobs führen, was ich als Gegenargument zu Deinem zu Beginn unseres Gesprächs eingebrachten etwas pessimistischen Zukunftsbild der Branche anführen möchte.

Dieter Gust

Du kommst immer mit der gesetzlichen Verpflichtung. Einwand: Das Produktsicherheitsrecht interessiert nur die Sicherheit, nicht die Vollständigkeit, soweit nicht diese nicht sicherheitsrelevant ist und auch nicht die „sinnvolle“ Nutzbarkeit eines Produktes, letzteres ist Thema von freien Verträgen bzw. der Gewährleistung. Und eines muss ich auch betonen, die Verantwortung der Produktsicherheit liegt bei der Konstruktion, nicht beim Technik-Redakteur. Die primäre Aufgabe der Technikredaktion ist, die Produktanwendung zu erleichtern. Die Warnung vor Restgefahren ist nur als letztes Mittel gedacht, soweit eine inhärent sichere Produktkonstruktion allein nicht möglich ist.

Und ja die Technik-Kommunikation eines Unternehmens könnte, obwohl schon immer wichtig, an Bedeutung gewinnen, weil die klassischen, total getrennten Bereiche Marketing und Service zusammenwachsen müssen. In einem für mich sehr bemerkenswerten Vortrag hat Holger Schmidt, Chefkorrespondent des Magazins Focus, früher Redakteur der FAZ, Koautor des Buches „Deutschland 4.0“ und Lehrbeauftragter an der TU Darmstadt, dieses Zusammenwachsen sehr beeindruckend betont. Zwar geht er auf Technik-Dokumentation selbst nicht ein, aber er macht sehr deutlich, dass lebenslanger Service die Basis künftiger Produkte bildet. Zu finden als Videovortrag oder als Präsentation bei Youtube oder auf seiner Webseite (siehe Links am Ende des Beitrags). Und so wie Holger Schmidt das klassische Marketing als mehr oder weniger überflüssig versteht, sehe ich auch die klassische Technik-Dokumentation als fragwürdig, weil sie eben genau das nicht leistet, was Du forderst. Ähnlich Medikamentenanleitungen, die meine Ärzte mir oft empfehlen gerade nicht zu lesen, weil eher Verwirrung statt Anwendernutzen stiftend, wird Dokumentation als juristische Absicherung allein nicht den Anwendernutzen in den Mittelpunkt stellen. Wenn allerdings wie eingangs erwähnt die Technik-Dokumentation sich zur digitalen Benutzerassistenz wandelt, dann sehe ich durchaus Chancen für einen sinnvollen Neuansatz. Und ich würde mich sehr darüber freuen, wenn mein Branchenpessimismus sich als Irrtum herausstellt.

Kornelius R. Böcher

Hm, wir müssen aufpassen, dass wir nicht aneinander vorbei reden. Ich bin kein Fan von Dokumentation, die nur geleistet wird, um juristische Forderungen zu befriedigen. Wenn ich mir ein Gerät kaufe, möchte ich analog dazu vom Hersteller ausreichende Informationen erhalten, um mein Gerät vollständig, sicher und ohne Umwege und Fragezeichen zu bedienen. Wie er das macht, da bin ich durchaus auch für neue Ansätze offen. Aber ich möchte z. B. nicht drei weitere Geräte anwerfen, um mir dann die Infos zusammenzusuchen. Vergiss bitte nicht, dass nur ein Teil der Nutzer so technikaffin und so damit geübt ist, wie unseresgleichen. Doch bevor ich das vergesse, hier eine Pressemeldung über eine Kasseler Firma, die professionell Drohnen einsetzt, um 3D-Modelle von Bauwerken zu erstellen. Für den gewerblichen Einsatz wird eine kostenpflichtige Genehmigung vom Regierungspräsidium benötigt und bestimmte Flüge müssen gesondert angemeldet und genehmigt werden. Sowohl diese Firma, als auch ein nordhessischer Hobbyanwender bekamen es zu spüren, wie empfindlich Anwohner sein können, als plötzlich bewaffnete Polizisten auf den Plan rückten. Immerhin scheint es bereits ein entsprechendes Warnpiktogramm sowie einen Warnhinweis zu geben, wie man auf der Warnsäule auf dem Bild erkennen kann.

Das Beispiel zeigt mir, wie wichtig es ist, diesbezüglich am Ball zu bleiben und welche vielfältigen Möglichkeiten und Herausforderungen mit den neuen Technologien verbunden sind, die immer wieder wie Pilze aus dem Boden schießen und uns dazu auffordern, uns hinsichtlich einer dazu passenden Technik-Dokumentation Gedanken zu machen.

Dieter Gust

Ich denke wir reden nicht aneinander vorbei, wir ordnen Anleitungen unterschiedliche Bedeutungen zu, und ich sehe bei Dir Themen, die eine Anleitung nicht abdecken kann. Die Welt wird nicht wirklich sicherer durch Anleitungen, die mit Warnhinweisen vollgestopft sind.

Kornelius R. Böcher

Nein, das sicher nicht, da gebe ich Dir recht. Und ich habe die vielen Warnhinweise zu meinem Headset auch nicht gelesen, jedenfalls nicht alle. Allerdings bin ich der Meinung, dass es für den Hersteller der genannten Drohne sinnvoll und im Schadensfall nützlich sein dürfte, auf die genannten Punkte hinzuweisen, zumindest ins Kapitel des bestimmungsgemäßen Gebrauchs gehören entsprechende Hinweise. Und um Deinen Branchenpessimismus etwas zu bekämpfen: Vielleicht könnte etwas mehr Motivation helfen? Die neuen Technologien könnten auch Möglichkeiten bieten, Anleitungen ansprechender und nicht so gewohnt trocken zu präsentieren. IKEA überrascht aktuell mit einem neuen Produktkatalog mit mehr informativem und ansprechend aufbereitetem Inhalt. Der bekanntermaßen sehr wortkarge Schwede scheint die Vorteile interessant aufbereiteter Informationen zu entdecken. Ich weiß, dass auch Du ein Verfechter der These „Anleitungen müssen langweilig sein“ bist. Ist das wirklich so? Ich meine, das führt doch gerade zur bekannten Ablehnung und befeuert den schlechten Ruf von Dokumentationen. Ich bin davon überzeugt, dass das nicht so sein muss und habe wiederholt in meinen Beiträgen gegensätzliche Anregungen gegeben. Ich glaube auch, dass wir das noch nicht bis zum Ende durchdacht haben und dass es noch viele unentdeckte Möglichkeiten der Lesermotivation gibt. Ich möchte das mit einem Beispiel aus besagtem Katalog verdeutlichen.

Ich meine, das klingt anders als: Schieben Sie nun den Rost mit den zu dampfgarenden Hörnchen in den Backofen. IKEA ist ja bekannt für einige originelle Sprüche, die sich ins Ohr setzen. Wohnst du noch oder lebst du schon? In gewissem Sinne macht das doch nicht nur Appetit auf die Hörnchen, sondern auf das ganze Produkt. Ich jedenfalls möchte jetzt diesen Dampfgarer sofort kaufen. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich von der Firma aus in 3 Minuten bei IKEA in der Tiefgarage bin. Also, wieso das nicht auf andere Produkte übertragen und ein wenig kreativer und motivierender die neuen Dokumentationen im Internet der Dinge gestalten?!

Dieter Gust

Lieber Kollege, da muss ich Dir eindeutig widersprechen. Ich habe nicht umsonst in meinem Gesamtkonzept für gute Technische Dokumentation unterschiedliche, sich letztendlich widersprechende Nutzungskategorien definiert, z. B. Werbung/Motivieren vs. Nachschlagen.  Wenn ein Anwender ein Problem mit dem Produkt hat (z. B. eine Fehlermeldung bei dem von Dir zitierten Backofen) dann würden „flockige Texte“ und Illustriertenfotos den Anwender noch eher demotivieren, denn er findet umso schwieriger die Lösung zur Fehlermeldung. Dein IKEA-Beispiel reflektiert eine ganz andere anleitungsuntypische Situation und der Katalog hat auch reine Motivationsfunktion vor dem Kauf. Stell Dir vor, im Katalog würden auch alle Fehlermeldungen zum Backofen aufgelistet: Das passt genauso wenig, wie Werbesprüche in Anleitungen. Anleitungsnutzer müssen überhaupt nicht motiviert werden, die schlagen nur nach, wenn sie hoch motiviert sind. Und bei der Suche nach der Lösung zu einer Fehlermeldung suche ich sicher nicht nach Überschriften wie „Wir machen Dampf für vollen Geschmack“ oder zum Wechseln von Druckerpatronen auch nicht nach Überschriften wie „die Drucker treibens immer bunter“.

Aber bei komplexen Produkten neben der klassischen Anleitung zusätzlich „Use-Case-Stories“ zu formulieren, durchaus auch ansprechend aufbereitet, das fände ich schon sehr interessant, da könnten Werbung und Dokumentation ein wenig zusammenwachsen. Aber da gilt es zwei eigentlich unvereinbare Prinzipien geschickt abzuändern: Werbung gewinnt angeblich durch „Auffallen um jeden Preis“, durch Verfremdung, durch permanente Variation von Begriffen, durch Schlagwörter die „alles versprechen“ und eine maximal verständliche Information ist ganz offensichtlich auf sprachlicher Ebene nur langweilig, wie gerade Benedikt Lutz in dem Buch von 2015 „Verständlichkeitsforschung transdisziplinär“ noch einmal treffend feststellt (S. 62).

Use-Case-Stories findet man zur Zeit insbesondere bei Software-Produkten und immer umgesetzt als Videos oder Screencasts, eigentlich kaum als klassische Text-und-Bild-Darstellung. Aber noch einmal: Solche Infos können klassische Anleitungsinformationen nicht ersetzen, nur ergänzen. So gesehen könnte es erst richtig spannend werden für die Technik-Dokumentation. Allerdings sind dann auch neue Budgets für die Technik-Dokumentation nötig; ob die jedoch aufgestellt werden? Übrigens, ich meine mit Use-Case-Stories nicht die User-Stories aus der agilen Software-Entwicklung, sondern die Themen, die man heute mit „Content-Marketing“ und „Storytelling“ eher schlecht als recht umreißt. User-Stories wäre auch ein sehr interessantes Thema …

Kornelius R. Böcher

Ja, über User-Stories zu reden wäre ein eigenes Thema, ich verweise dazu auf unsere neue Serie zum Thema Software. Ich kenne die Thematik aus langjähriger Tätigkeit in dieser Branche ganz gut. Die Dokumentation hat ihre eigene Problematik, wenn die User-Stories nur eine Krücke sind, um wenigstens die grobe Anwendung für den Programmierer bzw. alle Beteiligten darzulegen. Häufig kennt nur der Chef die ganzen Details. Diese erfährt der Programmierer oft nur ganz grob oder gar nicht, geschweige der Redakteur, der oft unter Zeitdruck steht und weder vom Chef, noch vom Programmierer ausreichende Infos bekommt. Wenn das Ergebnis dann noch einigermaßen akzeptabel ist, hat er etwas geleistet. Ich sage das, weil ich mir Gedanken darüber mache, wie das erst sein wird, wenn Budgets zusammengestrichen werden und Anleitungen zukünftig weiterhin langweilig abgefasst werden. So ein wenig pessimistisch werde ich bei dem Gedanken schon.

Ich möchte das Glas aber lieber halb voll sehen, ich meine, wozu sollten wir uns dann weiter abmühen und unsere Überlegungen dazu austauschen?!

Mir fällt da gerade noch eine aktuell von RIMOWA entwickelte digitale Anwendung ein, laut Eigenwerbung die „erste digitale Check-In-Lösung“ für unser Gepäck. Über eine App kannst du damit dein Gepäck von überall aus einchecken und dann unmittelbar am Flughafen abliefern, in Sekundenschnelle.

Am Freitag, 16. September 2016 tauschten sich vier Unternehmen zum Thema „Komfortables Reisen durch Digitalisierung“ aus. RIMOWA hatte zum Panel mit Lufthansa, T-Systems, Materna und RIMOWA Electronic Tag Gäste aus der ganzen Welt nach Dübendorf in die Schweiz eingeladen.

Ich habe ein wenig recherchiert und nach zunächst erfolglosem Aufruf der Electronic-Tag-Webseite, weil die URL in der Werbekampagne falsch war (oder veraltet) doch noch das Gesuchte gefunden.

Die Webseite weckt das Interesse am Produkt, und eine weitere Seite zeigt nähere Infos.

Womit ich nicht gerechnet hatte: Unter dem Button „Alle Fragen und Antworten“ sind doch tatsächlich Erläuterungen verborgen sowie ein Hinweis auf eine PHYSISCHE Anleitung! Trotz Smartphone-Anwendung, das finde ich bemerkenswert.

Hier haben wir doch unseren Mix: eine gedruckte Anleitung, die dem Produkt beiliegt und ausführliche Informationen auf der Webseite. Gefällt mir gut!

Dieter Gust

Industrie 4.0 bringt einen Ruck auch in die Technik-Dokumentation. Ob alles sich „zum Guten entwickelt“ oder das Chaos der Welt sich verschlimmert, wird wohl eher nicht über die Qualität der Technik-Dokumentation entschieden. Allerdings könnte ein neues Verständnis der Dokumentation als digitale Benutzerassistenz Dokumentation, Produkt und Anwender im positiven Sinne „näher zusammenrücken“ lassen. Dass neben Verletzungsgefahren auch ethisch-moralische Kriterien zu behandelnde Themen sind, soll gar nicht verschwiegen werden. Aber wie schon bei der Produktsicherheit sind das primär Fragen an die Produktplanung.  Warnhinweise zu Technikgefahren oder gar zu „moralisch verwerflichen Handlungen“ können immer nur ein ergänzendes letztes Mittel darstellen.

Kornelius R. Böcher

Mir schweben Anleitungen vor, die gelesen werden. Oder, wo es passt, als Videos angeschaut. Und nicht nur dann, wenn es brennt, sondern aus reiner Neugier und aus Interesse. Mir schwebt weiterhin vor, dass der Ruf der Technik-Dokumentation sich weiter verbessert. Immerhin haben sich die fragenden Gesichter bei Nennung der Berufsbezeichnung etwas verringert. Die neuen Herausforderungen bieten ja auch neue Möglichkeiten, an diesen Themen weiter und mit vielleicht neuer Intensität zu arbeiten. Natürlich werden sich die alten und bekannten Problematiken damit nicht lösen lassen, die unsere Arbeit wie ein Schatten begleiten, z. B. das Gespenst des Widerwillens gegen das Lesen von Anleitungen. Um es mit dem Satz eines Referenten bei einem tekom-Regionaltreffen zu sagen: Technik-Dokumentation ist eine Generationenaufgabe. Und ich bin davon überzeugt, dass das auch so bleiben wird.

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