Von der Digitalisierung zur digitalen Reife – Eine Nachlese zur tekom-Jahrestagung 2020

Das Jahr 2020 ist in vielen Belangen ein besonderes Jahr mit besonderen Herausforderungen. Wir werden zum Umdenken gezwungen, müssen uns von alten Gewohnheiten zumindest zeitweise trennen und neue Wege finden, unseren Alltag zu bestreiten. Ironischerweise ist es genau dieses Jahr, welches als Jahr der Digitalisierung in die Geschichte eingehen wird. Oder doch eher als Jahr des Scheiterns der Digitalisierung?

Geht man die Themenliste der erstmals online stattgefundenen tekom-Jahrestagung durch, findet man kaum ein Thema, welches sich nicht mit der Digitalisierung beschäftigt. 

Wir lernen immer weiter, wie man gute, bessere und noch bessere Videos erstellt. Hier gibt es viele interessante, aber doch eher kleinere Entwicklungen.

Wir lernen, dass iiRDS weiterhin genutzt wird, dass es dazu ein durchaus sinnvolles Open Toolkit gibt, aber der Durchbruch zu einem wahren Branchenstandard noch nicht so recht geglückt ist. Zum einen wachsen und ändern sich die Anforderungen an den iiRDS-Standard stetig. Zum anderen ist es nötig, dass sich auch das Umfeld an iiRDS anpasst, z. B. muss eine Maschine dementsprechend die Informationen liefern. Hier gibt es weiterhin keinen eindeutigen Trend.

Wir lernen, dass das Zusammenspiel zwischen der IEC/IEEE 82079-1 und der DIN EN ISO 20607 nach wie vor ein brennendes Thema ist. Im Meetup zu unserer Hauptnorm „82079“ entfachte erneut die Diskussion über das Zusammenspiel und die Notwendigkeit der zwei Normen. Martin Rieder – Bindeglied zur 82079 im 20607er Gremium – sah sich konfrontiert mit durchaus relevanten Fragen, was uns die 20607 denn mehr geben könne als unsere 82079. Mein Kollege Dieter Gust hat das für Sie bereits zusammengefasst:

Die neue Norm 20607: Sinnvolle Ergänzung oder überflüssiger Wettbewerb?

Neben solchen hitzigen Diskussionen gab es aber auch einen großen Konsens: Alles was Rang und Namen hat, stellte Lösungen im Bereich Content Delivery für die wachsenden Anforderungen im Zeitalter der Digitalisierung vor. Wie sieht ein Service-Portal aus? Welche Interaktionsmöglichkeiten gibt es in einer HTML5-Dokumentation? Alles was die letzten Monate und Jahre mehr oder minder unter der Oberfläche geschwelt hat, wurde nun endlich ausgerollt. Die Digitalisierung kann kommen!

Zwei Vorträge haben mich dann doch stutzig gemacht:

1) Im Jahr 2020 geht die Norm für Softwaredokumentation ISO/IEC 26514 (und deren Anhängsel) laut den Worten der Vortragenden nun endlich weg vom buch-orientierten Ansatz und nutzt nun Information for users statt book oder document. Es fallen Stichwörter wie agil und es gibt die lang ersehnte Reduzierung von Redundanzen gegenüber der 82079. Die Norm erhält die notwendige Frischzellenkur, wird dadurch aber nicht modern, sondern gerade mal aktuell. Na immerhin!

2) Herr Heuer lud auch dieses Jahr zu seinem stets gut besuchten Vortrag zur aktuellen Rechtsentwicklung ein. Neu war, dass es einen zweiten Vortrag gab, welcher sich auf die Rechtsentwicklung im Bereich der Digitalisierung fokussierte. Bei diesem merkte man aber schnell, dass die beiden Vorträge mittlerweile gar nicht mehr unbedingt getrennt werden müssen, waren die Themen doch ähnlich. Fazit der Vorträge war eine gewisse Inkonsequenz. Herr Heuer widersprach zu unserer Verwunderung einem Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt (Az.:6 U 181/17), welches digitale Anleitungen in ihrer Existenz bestätigte. Schade! Für itl ist die Entscheidung des OLG eine klare Bestätigung der digitalen Anleitung. Im gleichen Atemzug konnte sich Herr Heuer aber für ein Urteil des LG Hannover (Az. 18 O 224/19) begeistern, welches klar ausdrückt, dass Funktionsversprechen in einer vor dem in Kauf vorhandenen und sichtbaren Online-Dokumentation für den Kunden relevant sind und somit vom Hersteller/Verkäufer eingehalten werden müssen. Im konkreten Fall bekam ein Kunde Recht, dass es ein Mangel ist, wenn eine beschriebene Funktion fehlt.

Fakt ist: Online-Dokumentation ist möglich (siehe unser Video zur Frage: Technische Dokumentation: Print oder Online?). Fakt ist auch, dass wir tatsächlich nicht einfach unsere Papierdokumentation online stellen können und uns damit begnügen dürfen. Hier bedarf es tiefergreifenden Analysen, denn mehr denn je entscheidet der Kunde, was er kann und was nicht – es geht hier nicht um „wollen“ oder „mögen“.

Zum Abschluss muss ich sagen, dass wir 2020 die Digitalisierung noch nicht ganz geschafft haben. Oder lassen Sie es mich so sagen: Wir haben uns in diesem Jahr, in diesen herausfordernden Zeiten gut angepasst und damit eine sehr gute Grundlage geschaffen. Im Jahr 2021 stehen uns nun alle Türen offen, um die digitale Reife zu erlangen.

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[12. Januar 2021]

Glücklicherweise durften wir mit einigen Kunden schon digitale Anleitungen umsetzen, sogar solche, die rein digital stattfinden. Mich freut, dass Sie da anscheinend auf der selben Welle schwimmen.

Unser und auch mein Anliegen ist es, auch Kontrollinstanzen dazu zu animieren, digitale Anleitungen unserer Kunden mit reinem Gewissen und ohne Missverständnisse freizugeben. An dieser Stelle kommt es doch hin und wieder zu Schleifen. Dies führen wir auf die anhaltenden und noch nicht komplett geklärten, öffentlichen Diskussionen zurück.

[07. Januar 2021]

Ich kann sie leider nicht verstehen ...

Warum hält sie Herr Heuer auf.

Machen sie doch "digitale Anleitungen" - tun sie es.

Wir und sie kennen die gesetzlichen Grundlagen.

Wir und sie kennen den Unterschied zwischen Baumaschine und Digitalkamera.

Wir und sie kennen die eDok Richtlinie (da war sogar Dieter Gust mitgearbeitet, ein Mitarbeiter von itl).

Wir und sie wissen was zu tun ist. Dann machen sie eine digitale Anleitung

[07. Januar 2021]

itl AG

Guten Tag Herr Altrichter,

ich beziehe mich gerne auch auf Ihre Mail vom 06.01., bei der Sie neben der Frage zum Inhalt des Urteils zusätzlich auf den Unterschied von Digitalkameras und Baumaschinen hinweisen:

Das Urteil bezieht sich auf ein Elektroauto für Kinder. Das Urteil habe ich Ihnen unten nochmal verlinkt.

Sie haben natürlich Recht! Eine Baumaschine und eine Digitalkamera oder auch ein Elektroauto sind nicht dasselbe. Ich würde mich freuen, wenn die Diskussionen auf dieser Ebene geführt würden. Viele unserer Kunden und Interessenten sehen sich aber viel oberflächlicher mit dem Thema der digitalen Anleitung konfrontiert. Da lautet die Frage: Schreibt mir das Gesetz vor, dass eine rein digitale Anleitung prinzipiell nicht ausreicht Und hier gibt uns das Urteil Recht:

Das ProdSG hat prinzipiell nichts gegen rein digitale Anleitungen.

Dieser Fakt wird, auch von Herr Heuer, gerne noch immer kleingeredet. Doch wir müssen dies endlich akzeptieren, damit wir, wie Sie vollkommen richtig aufzeigen, darüber reden können, wann welche Anleitungsform Sinn macht!

Wir müssen weg von „Papier geht immer“ und hin zu „Welche Information muss in welcher Form der Zielgruppe bereitstehen?“

Darüber müssen wir uns dann unterhalten! Und dann macht es sicher Sinn, dass einige Informationen, z.B. bei einer Baumaschine, in Papierform direkt vor Ort beiliegen. Aber sicher gibt es auch einige Informationen, die besser digital vorliegen. Hat die Maschine z.B. eine Software? Warum ist die Anleitung für diese Software nicht in die Software integriert? Oder ist es wirklich sinnvoll, Wartungsarbeiten in Papierform zu beschreiben, wenn die ersten Wartungsarbeiten 2 Jahre nach Erstinbetriebnahme stattfindet? Ist die Papierdoku dann wirklich noch am Platz?

Darüber müssen wir reden! Aber wir reden noch immer über das „Darf ich überhaupt digital?“

Beste Grüße!

Zum Urteil: www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE190019856

[05. Januar 2021]

Digitales

Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt (Az.:6 U 181/17), welches digitale Anleitungen in ihrer Existenz bestätigte.

ist das mit der Digitalkamera?