Zwei Experten – drei Meinungen?

Nie mehr Papier?? Ein Streitgespräch

(Dieses Streitgespräch veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von Kornelius R. Böcher, der es ursprünglich auf seiner Webseite boedoc.de gepostet hat.)

Die Rufe nach einer Verabschiedung der Papierdokumente werden besonders im Zuge der euphorisch erwarteten Verstärkung der Digitalisierung lauter. Das papierlose Büro wurde schon vor Jahrzehnten eingeläutet, die Realität scheint das aber nicht verstehen zu wollen, das unübersehbare Angebot an Druckern und Druckdiensten spricht diesbezüglich Bände.

Verschiedene Faktoren spielen bei diesen Überlegungen eine Rolle, angefangen von der natürlich herstellerseitig begrüßten Erwartung, Druckkosten einsparen zu können, über die generelle Entwicklung weg vom Buch und hin zu den digitalen Medien bis zu den nicht zu leugnenden Möglichkeiten der zeitnahen Änderung und Bereitstellung von Dokumentationen reicht die Bandbreite dessen, was bei dieser Frage zu bedenken ist. Und es gibt dabei noch jede Menge Zwischentöne.

Wir haben bei dieser Thematik gemerkt, dass der Riss nicht nur durch die Anwender und die Hersteller geht, sondern auch in der Branche klafft. Mit einem (Streit)Gespräch versuchen wir, das ganze etwas zu erhellen und vielleicht Möglichkeiten und Wege zu finden, mit dem Sachverhalt so umzugehen, dass im Ergebnis nicht ein Weiß oder Schwarz herauskommt.

Am virtuellen Kamin trafen sich Kornelius Böcher und Dieter Gust; langjährige Experten im Bereich Technik-Dokumentation. Und überraschend offen traten die Gegensätze hinsichtlich der geeigneten Medienwahl für Technik-Dokumentation zu Tage, aber lesen Sie selbst …

Hinweis: Dieser Artikel ist im Praxishandbuch Technische Dokumentationen bei WEKA Media erschienen.

Zur Info: Das Gespräch beginnt mit einem Statement von Kornelius Böcher, dem weitere Statements folgen, die jeweils von Dieter Gust kommentiert bzw. gekontert werden.

Kornelius R. Böcher, Technik-Redakteur in einem Maschinenbauunternehmen und langjährige Erfahrung als Dienstleister für Technik-Dokumentation. Im Zusammenhang mit früheren zahlreichen Optimierungsprojekten für den TÜV Süd Product Service hat er schon geraume Zeit mit normativen Aspekten zu tun, besonders im Hinblick auf die DIN EN 82079-1. Als Herausgeber und Autor dieses Praxiswerks beschäftigt er sich laufend mit den verschiedensten Themen und Trends, die er akribisch recherchiert und aufbereitet. Als Bücherwurm ist er darüber hinaus generell am Fortbestand des Papiers als Informationsträger interessiert, zumal wir heute nicht wissen, wie haltbar unsere digitalen Informationen wirklich sind. Er weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass er generell nicht nur für ein bestimmtes Medium votieren möchte. Die Affinität zum Papier möchte er aber nicht bestreiten, daran konnte auch die langjährige Tätigkeit im Softwarebereich und damit „nur online“ zu dokumentieren, nicht viel ändern. Als Nutzer verschiedener Smartphones kennt er die Stärken und Schwächen verschiedener mobiler Systeme und beschäftigt sich u. a. häufig mit Usabilityaspekten.

Dieter Gust, Leitung Forschung & Entwicklung beim Dokumentationsdienstleister itl AG in München. 1986 als Technischer Redakteur gestartet, entwickelte er in den folgenden Jahren eines der ersten Vollzeitausbildungskonzepte für die Technische Redaktion in Deutschland. Im Bereich F&E beschäftigt er sich intensiv mit der Optimierung von Dokumentationsprozessen. Als er erst 2010 von der legendären iPhone-Vorstellung von Steve Jobs erfuhr, erkannte er das iPhone und Steve Jobs Präsentation als die mit Abstand wichtigste, mit geradezu revolutionärem Einfluss auf die künftige adäquate digitale Ausgestaltung von Technischer Dokumentation. Das Einläuten des Zeitalters von Industrie 4.0 wird diesen digitalen Trend nur verstärken.

Als Intensivnutzer des jeweils neuesten Samsung-Smartphones mit weit mehr als hundert Apps erkennt Dieter Gust die Vorteile einer digitalen App-basierten TD. Er sieht sich heute vor allem als Botschafter, Papier im Bereich TD weitestgehend durch Apps zu ersetzen, weil seiner Meinung nach nur so eine optimale Nutzbarkeit bei optimalem Preis-Leistungs-Verhältnis erreichbar sei. Dabei verkennt Dieter Gust nicht, dass eine Medienwahl für Technische Dokumentation im Rahmen der Risikoanalyse des Produkts besonders reflektiert werden muss und für bestimmte Use Cases Papier immer noch die beste oder gar einzige sinnvolle Nutzbarkeit bieten kann. Er selbst bleibt dem Papier übrigens als intensiver Romanleser treu.

Dieter Gust unterstützt Unternehmen dabei, Dokumentationskonzepte für das Zeitalter von Industrie 4.0 zu entwickeln und so auch künftigen Benutzererwartungen gerecht zu werden.

Statement 1

Kornelius R. Böcher

Viele Hersteller scheinen es leid zu sein, Anleitungen gedruckt beizulegen. Für sie ist es nur ein unnötiger Kostenfaktor, und außerdem geistert noch dieses Gespenst herum, das fleißigen Redakteuren die eigene Arbeit madig machen will mit der Behauptung, ihre Anleitungen werden sowieso nicht gelesen. Da kommt für mich doch die Erinnerung eines geachteten Professors der Branche, Prof. Dr. Markus Nickl, gerade richtig, dass eine Studie vor einigen Jahren diesbezüglich zu einem ganz anderen Schluss gekommen ist. Darin wurde deutlich, dass Anleitungen sehr wohl gelesen werden – und nicht unbedingt nur, wenn es brennt. Sondern z. B. auch als Informationsquelle, um das eben erworbene Produkt kennenzulernen. Ich gehe davon aus, dass es dabei auch und vielleicht in erster Linie um physische Anleitungen geht, also solche, die man nicht erst downloaden oder auf einem Device aufrufen muss, sondern sofort zur Hand hat. Die gibt es sogar für mein Smartphone, allerdings nur als Abstract, das wahre und umfangreiche Werk gibt es nur per Download. Aber ich freue mich auch über eine gedruckte Anleitung, die ich bequem mitnehmen kann, weil sie in die Smartphonetasche passt und ich sie während meiner täglichen Zugfahrt studieren kann, das ist mir in diesem Fall lieber, als eine Anleitung, die in einem Gerät eingesperrt ist oder sich gar irgendwo in den Weiten des Web befindet und die ich immer dann brauche und nicht bekommen kann, wenn mein Zug gerade durch einen langen Tunnel fährt.

Bei mir punkten gedruckte Anleitung noch mit der schnellen Verfügbarkeit, und dass ich darin schneller blättern und etwas finden kann, als in einer Anleitung, die, wie bereits festgestellt, in einem Gerät eingesperrt ist.

Ich finde, bei diesem Smartphone, einem Lumia-Modell, ist das mit der Anleitung gut gelöst. Sie ist ansprechend gestaltet, teilweise in Farbe und kann leicht mitgenommen werden.

Dieter Gust

Also in meinem Erleben sowohl als Begleiter von Anwendertests mit Anleitungen zu technischen Produkten als auch als Beobachter im Bekanntenkreis, habe ich nie erlebt, dass ein Anwender die gedruckte Anleitung mehr als durchblättert, d. h. Passagen wirklich, ohne gleich konkret am Produkt zu handeln, durchliest. Und nur wenn man größere Passagen lesen würde, sehen in meiner persönlichen Statistik Anwender und sogar ich noch Vorteile in der gedruckten Information.

Was ich sehr wohl und sehr häufig zurzeit erlebe, ist, dass Anwender in Google zum Produkt nach Informationen suchen oder gleich in YouTube nach Anleitungsvideos schauen. Man muss also bei allen Umfragen zu Anleitungen fragen, aus welcher Zeit sie stammen. Steve Jobs hat mit dem iPhone und den intuitiven Wischgesten eine Revolution ausgelöst, die die Online-Informationsnutzung radikal verändert hat und nun zum Alltagsgebrauch für jedermann hat werden lassen. Umfragen aus der Zeit vor 2010 zur Verbesserung technischer Anleitungen sind daher überholt und sinnlos! Du beziehst Dich z. B. auf die Studie des DIN -Verbraucherrats „Bedienungs- und Gebrauchsanleitungen: Probleme aus Verbrauchersicht und Lösungsansätze“, Herausgeber Verbraucherrat des DIN 2009, Autorenschaft Vertreter der tekom.

Und was den Kostenfaktor anbelangt, muss man sich folgendes Beispiel mal wirklich vor Augen führen. Ich habe mir kürzlich einen Bosch Akku-Bohrschrauber und das Ladegerät für den Akku gekauft. Das folgende Bild zeigt den Bohrschrauber und die zugehörige Anleitung dazu. Die Anleitung hat insgesamt 175 Seiten, davon sind in Deutsch 11 Seiten.

Die Anleitung zum Ladegerät umfasst 72 Seiten davon sind gerade mal 5 Seiten Deutsch.

Beide Beispiele offenbaren eine unglaubliche Ressourcen-Verschwendung. Und weil gedruckte Anleitungen aus verständlichen Kostengründen druckoptimiert sein müssen (so wenige Seiten wie möglich) und auch noch in die Verpackung passen müssen, sind sie für einen Anwender zwangsweise nicht optimal aufbereitet (z. B. zu wenig Weißraum um Informationseinheiten (Topics).

Der absolute Höhepunkt ist die Anleitung zum induktiven Ladegerät für das Samsung Galaxy S6 Smartphone:

Umfang ca. 300 Seiten, Schriftgröße 5pt, der eigentliche relevante Inhalt passt auf eine kleine Seite. Auch hier der Grund: Separate Anleitungen je Sprache sind logistisch nicht mehr zu lösen. Das Dokument spiegelt so zwangsweise den Weltmarkt wider.

Wenn man dagegen eine optimale elektronische Anleitung für das Smartphone anbieten würde, passieren zwei überraschende Dinge:

  • der Anwender könnte die Anleitung praktisch viel besser nutzen
  • die Anleitung würde um richtige Größenordnungen billiger

Klar ist natürlich: Will ich eine Info zum Laden meines Smartphones lesen, weil der Akku leer ist, hilft die elektronische Anleitung erst einmal nichts. Aber die relevante Info zur Bedienung der Ladeschale steht auch auf der Innenseite der Verpackung:

Die Herausforderung ist heutzutage der völlig neu zu diskutierende Zweck einer Dokumentation sowohl auf Seiten des Herstellers, als auch auf „Lobbyseite“ der Anwender, hier z. B. der Verbraucherrat des DIN oder auch der Verband der Technischen Redakteure, tekom.

Weder Bosch noch Samsung bieten zu den genannten Produkten den schnellen Zugriff auf die Anleitung (und sei es als papierorientiertes PDF). Bosch würde etwa mit seiner im Prinzip hervorragenden App „Bosch-Toolbox“ einen guten und leichten Zugang bieten können zur Anleitung für den Akku-Bohrschrauber, doch außer technischen Daten und Werbung gibt es keine weiteren Infos.

Die angeblich juristisch begründete Argumentation, nur Papier habe man sofort zur Hand, negiert einfach die radikalen Änderungen seit 2007. Welcher Schritt für die Nutzungsmöglichkeit einer Anleitung zumutbar ist, ist keine Fragestellung, die unabrückbar gleichartig zu stellen ist seit der Erfindung des Buchdrucks vor mehr als 550 Jahren, sondern hängt auch ab vom Stand der Technik. Kein Mensch kommt doch auf die Idee, zur Papieranleitung eine Taschenlampe mitzuschicken oder bei Schriften kleiner 8 Punkt eine Lupe, obwohl in bestimmten Situationen der Zugriff zur Information dann manchem Anwender nicht möglich sein dürfte.

Der vermeintlich „unzumutbare Schritt“, eine Anleitung „umständlich“ downloaden zu müssen, bevor man sie nutzen kann, ist nur deshalb unzumutbar, weil die Hersteller bisher nichts tun für einen optimalen oder gar automatischen Download (z. B. über einen QR-Code auf der Verpackung). Und wer einen Internet-Zugang noch als besonderes Extra sieht, lebt nicht mehr in dieser Welt.

Und wenn die Hersteller die Vorteile der elektronischen Anleitung auch wirklich nutzen würden (Animationen, Integration von Videos bis hin zur digitalen Benutzerassistenz, wie diese die Bosch Toolbox bereits ansatzweise bietet, dann wird kaum ein Anwender der Papieranleitung nachtrauern und wenn doch: Als kostenpflichtige Sonderausstattung sollte man die Papieranleitung zurzeit durchaus noch anbieten. Dann wird man sehen, wie viel Bedeutung eine gedruckte Anleitung hat.

Statement 2

Kornelius R. Böcher

Hm, da hast Du ja wirklich ganz besondere Kleinode ausgegraben, zum Glück habe ich zu Beginn ein positives Beispiel herangezogen. Was den Sinn solcher Dokumente angeht, sehe ich das ganz ähnlich, es gibt jedoch viele gedruckte Anleitungen, die nicht zu dieser Kategorie gehören. Zur erwähnten Studie: Auch wenn diese einige Jahre alt ist, heißt das nicht, dass sie automatisch überholt ist. Wir sehen z. B. bei dem Usability-Guru Jakob Nielsen, dass Erkenntnisse, die inzwischen sogar zwei Jahrzehnte zählen, durchaus nicht veraltet sind. Unser geschätzter Prof. Markus Nickl hat mir Folgendes zum Thema gesagt: „Als Linguist sehe ich hier kein Entweder/Oder. Papier wird als Dokumentationsmedium nie aussterben; bisher hat noch keine Medieninnovation dazu geführt, dass das vorherige Medium komplett abgelöst wurde, bzw. wenn, dann in sehr langen Zeiträumen. Ein dermaßen beliebtes und bequem handhabbares Medium wie Papier wird also auch weiterhin seine Berechtigung haben. Die Frage ist nur, für welche Zielgruppen und für welche Anwendungsfälle.“ Das ist kein Zitat aus der Vergangenheit, sondern topaktuell, 2016. Die Aussage passt auch gut zu meiner anfangs erwähnten Erfahrung mit meiner Smartphoneanleitung und wir werden diese Aspekte im Verlauf des Gesprächs noch berühren. Doch zuvor möchte ich einige Gedanken aus der tekom-Studie aus dem Jahr 2009 erwähnen, die mir sehr wichtig und vor allem zeitlos scheinen.

Zunächst wird im Kapitel zum Thema in der Studie auf die Politik von Apple Bezug genommen. Das ist nach meiner Meinung auch etwas, das Dich bei Deiner Argumentation sehr stark treibt. Aber das ist ein Einzelfall. Ein Produkt, das in weiten Teilen durch geniales Design und eine durchdachte Usability glänzt. Das kann man aber nicht als Maßstab nehmen, weil es mit den meisten anderen Produkten nicht funktioniert. Ich sage es etwas überspitzt: ein Apple-User ist so vernebelt von Design und Namen seines Produkts, dass ihm alles andere zunächst egal ist. Außerdem glaubt er, dass er als Nutzer dieses Produkts intelligent genug ist, das ohne Anleitung zu bedienen.

Zitat aus der Studie zur Wichtigkeit einer Papieranleitung: „Auf die Frage, wie wichtig es ist, die Anleitung als Papierversion verfügbar zu haben, gaben 63 % „sehr wichtig“ und 31 % „wichtig“ an, nur 6 % war dies „weniger wichtig“ oder „unwichtig“. Hingegen wollten eine online verfügbare Anleitung nur rund 49 % und eine als CD-ROM lediglich 35 % der Befragten.“ Es mag sein, dass heute nach einigen Jahren mehr Nutzer eine online verfügbare Anleitung haben möchten, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass die obigen Prozentwerte sich exorbitant verändert haben. Dein Verweis auf die Revolution in 2007 passt nicht ganz zu dem Ergebnis der Studie aus 2009. Dazu kommen weitere Punkte, die bei der Thematik bedacht werden müssen und auch in der Studie genannt werden:

  • Anleitungen online oder auf CD werden als unpraktisch bezeichnet.
  • Nutzer möchten nicht für jeden Lesevorgang ein Gerät starten müssen.
  • Ältere Nutzer sind nicht technikaffin und bevorzugen Print.
  • Nicht nur für sehbehinderte Nutzer sind PDF-Dateien oder auch Onlineanleitungen oft schlecht lesbar. Die Bedienung am Gerät ist daher umständlich.

Mir scheint, dass ein Gedanke in der Studie und auch in unserer Diskussion näher betrachtet und überlegt werden sollte: Kann es sein, dass viele Nutzer gezwungen sind, eine Anleitung online zu lesen, weil die beigelegte entweder zu knapp oder unverständlich ist? Mir scheint, viele dieser Nutzer würden sehr wohl eine gedruckte Anleitung bevorzugen, wenn diese von ausreichender Qualität und Vollständigkeit wäre. Dazu ein Zitat aus der tekom-Studie: „Um sich einen Überblick über alle Funktionen des Gerätes zu verschaffen, um einen optimalen Einsatz des Gerätes zu gewährleisten; bedauerlicherweise ist die gedruckte Anleitung relativ komprimiert, die CD-Version dagegen sehr ausführlich; eine gedruckte Zwischenversion wäre nicht schlecht für den Normalgebrauch.“

Nach diesem Befund würde ich es befremdlich finden, Papieranleitungen kostenpflichtig zu machen. Dass einige Hersteller, wie das gezeigte Beispiel, ihre Philosophie überdenken sollten, ist für mich keine Frage. Aber generell ist die Anleitung immer noch Teil des Produktes und das ist auch gut so. Zudem habe ich in meinem Beitrag über die BMW-App einige Punkte aufgezeigt, die bei Onlineanleitungen bzw. Apps problematisch sind, z. B. dass die Navigation zum Abenteuer wird, besonders wenn man die App das erste Mal benutzt. Und viele geben nach einer solchen Erfahrung bereits auf – und das zu Recht.

Dieter Gust

Mir fällt besonders auf, dass bereits in der „Online-Steinzeit“, d. h. bevor Smartphones die Welt revolutionierten, 50 % der Anwender eine Online-Anleitung haben wollten! Die von Dir zitierte Studie hat bei den Umfragen noch keinen Bezug auf App-basierte Anleitungen auf Smartphones nehmen können, das war alles viel zu neu.

Die Frage der Vollständigkeit einer Anleitung – online oder Papier – die die Entscheidung z. B. für Papier massiv nach oben treiben würde, sehe ich überhaupt nicht – im Gegenteil: „Googeln“ und „youtuben“ ist eine heutzutage durchaus übliche Nutzung von Anleitungsinformationen. Wenn beide Medien optimal bedient würden, hat Papier nur noch bei wenigen Personengruppen eine Chance. Du darfst nicht immer nur das Bild einer CD-ROM-basierten PDF der Papieranleitung gegenüberstellen.

Apps haben auch 2016 noch nicht die optimale Usability erreicht, Apps sind immer noch ein vergleichsweise neuer Ansatz, der bei den Anwendern „reifen“ muss – Wer leistet sich heute noch echte Anwendertests – das gilt im Übrigen auch für die Papierdokumentation! Kritik an einer App-Usability bedeutet also noch lange keinen Vorteil der gedruckten Dokumentation. Papier macht in den meisten professionellen Nutzungskontexten nur Sinn, wenn man es als didaktisches Mittel begreift: Man kann (und soll) sich einlesen in das Thema Sicherheit, was bei gedruckter Dokumentation die meisten Menschen noch als angenehmer empfinden. Und natürlich gibt es Nutzungskontexte, bei denen nur Papier den Zugriff bietet, diese sind aber konkret zu klärende Einzelfälle.

Die grundsätzliche (und nicht fallweise abzuwägende) Entscheidung, nach der elektronische Dokumentation nicht zulässig sei, weil es Situationen gäbe, bei der die Elektronik nicht funktioniere, hat selbst das Gerichtsurteil aus dem Jahre 2014 (Urteil vom 26. Juni 2014 · Az. 2 O 188/13) eine Absage erteilt: „Es entspricht dem Stand der Sicherheit, den Verbraucher heute billigerweise erwarten können, auch Sicherheitshinweise lediglich auf festem Datenträger mitzuliefern.“

Dass es Zielgruppen gibt, die keinen Bezug zu Online und Internet haben, stimmt sicher. Man muss daher die Medienentscheidung für eine Anleitung auch in Bezug setzen zum dokumentierten Produkt, aber genau diesen Bezug stellt das genannte Urteil her.

Ich muss hier nochmals betonen, dass es nicht darum gehen kann, Papier oder Online-Dokumentation unabhängig voneinander zu verteufeln oder gutzuheißen. Aber ist es wirklich sinnvoll, die Entscheidung für das geeignete Medium wirklich pauschal juristisch klären zu lassen, oder sollte die Entscheidung nicht besser in der Hand von Experten für die Dokumentationsnutzung liegen? Hier sollten und müssen Technische Redaktionen selbst einen Professionalitätsanspruch zeigen, der durch den laufenden Ruf nach Rechtsanwälten zurzeit völlig in die falsche Richtung geht.

Allzu oft werden auch die EU-Richtlinien als Maßstab genannt, die eine Papierpflicht begründen würden. EU-Richtlinien verlangen das Beifügen (englisch „to accompany“) von Anleitungen. Daraus eine Papierpflicht abzuleiten ist zwar „Standard“ aber dennoch sachlich und juristisch falsch. Selbst der neue Blue Guide der EU-Kommission vom April 2016 (COMMISSION NOTICE of 5.4.2016 – The ‚Blue Guide‘ on the implementation of EU product rules 2016)“ beginnt zwar auf sehr unbeholfene Art, das Thema Papier oder online neu „zu justieren“. In der  Fußnote 99 wird Folgendes gesagt: „Unless otherwise specified in specific legislation, whilst the safety information needs to be provided on paper, it is not required that all the set of instructions is also provided on paper but they can also be on electronic or other data storage format. However, a paper version should always be available free of charge for the consumers who request it. 4.”

Warum Dokumentation „free of charge“ sein muss, ist mir schleierhaft. Dass Doku eine Sicherheits-Produktkomponente ist, sage ich auch. Kein anderes Produkt-Sicherheitsteil ist jedoch kostenlos. Warum sollte nicht grundsätzlich auch die Papier oder Online-Dokumentation entsprechend der tatsächlichen Kosten an den Kunden verrechnet werden? Richtig wäre also nur der Satz: Das Produkt darf nicht ohne Dokumentation verkauft werden.

Die Überlegung zur kostenlosen Dokumentation wird allenfalls nachvollziehbar, wenn man bei reinen Consumer-Produkten, nehmen wir mal bewusst ein Überraschungsei, sagen würde, dass zusätzlich zum Kauf des Eis die Anleitung zum Aufbau des Plastikinhalts kostenpflichtig bezogen werden muss.

Statement 3

Kornelius R. Böcher

Kostenpflichtige Anleitungen für das Überraschungsei?! Auf diesen Gedanken muss man erstmal kommen. Das wäre endlich mal eine Möglichkeit zu messen,  wie beliebt Anleitungen wirklich sind. Ich würde da nur eine Chance sehen, wenn es gelingen würde, diese Anleitungen in einen Kultstatus zu heben.

Zu dem genannten Gerichtsurteil gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Es bedeutet ja faktisch, dass Nutzer dazu „verurteilt“ werden, für jede Konsultation der Anleitung diese auf einem Gerät aufzurufen oder sich die Anleitung auszudrucken. Tut er das nicht oder ist er dazu in der betreffenden Situation nicht in der Lage, kommt er nicht an die gewünschten Informationen, z. B. wenn er mit seinem Gerät unterwegs ist. Wenn er sich die Anleitung ausdruckt, hat er diese in der Regel in Form von losen Blättern vorliegen, was besonders unterwegs sehr ungünstig ist, im Prinzip ist das eine sehr unpraktische Lösung.

Es ist von daher zweifelhaft, ob das genannte Gericht sich tiefere Gedanken über die Anwendbarkeit dieser Lösung gemacht hat. Ohne Zweifel ist dies jedoch nötig, um, wie Du richtig sagst, eine fallbezogene Lösung zu finden. Solche Lösungen sind nötig, um je nach Produkt zu entscheiden, welche Form der Bereitstellung angemessen und praxisbezogen ist. Es werden entsprechende Konzepte nötig sein, die nicht per Gerichtsentscheid zu verordnen sind, sondern nach entsprechender Beurteilung durch Experten gesucht und gefunden werden sollten.

Dieter Gust

Ich sage das schon immer, dass Experten die Nutzungskonzepte entscheiden sollten. Aber kaum plädiere ich für Online, dann müssen eine vermeintlich Papier-befürwortende Rechtsprechung oder Studien zur Dokumentationsnutzung mir Einhalt gebieten – da passt dieses Urteil von 2014 plötzlich nicht ins Bild. Und: Eine Studie/Umfrage ist dann veraltet, wenn sie Alternativen abfragt, die heute nicht mehr zutreffen. Unter Online verstand man vor 2010 vor allem die Bereitstellung via CD-ROM oder über das Internet einen Zugriff via PC. Beides ist im Vergleich zu modernen Smartphones und etwa einen Sofortzugriff via QR-Codes faktisch „Steinzeit“.

Wichtig ist zu erkennen, dass Smartphones das Thema „Online“ nicht einfach nur etwas verbessert haben, sondern es geht um eine disruptive Technologie, die das gesamte Leben verändert. 2007 war die Erstvorstellung dieser Technologie. Es dauert 5-10 Jahre, bis eine disruptive Technologie voll durchgreift. Und das ist geschehen.

Es geht gar nicht darum, dem Papier bestimmte grundsätzlich positive Usability-Funktionen abzusprechen oder gar den Gutenberg-Fans ihre Liebe zur Buch-Haptik wegzunehmen. Unter den Gesichtspunkten Nutzen, Aufwand, Kosten das jeweils Optimale durchzusetzen ist das eigentliche Rahmenmodell. Wer kauft denn heute noch ein gedrucktes Lexikon? Wer schaut noch in einem gedruckten Telefonbuch nach? Welche Form einer Dokumentation bringt heutzutage das beste Preis-Leistungs-Verhältnis?

Den Unternehmen zu sagen, bietet beides an, Print und Online, ohne Kosten zu thematisieren, diese Forderung blendet geschäftliche Rahmenbedingungen aus. Dokumentation ist in Bezug zum erlebten Nutzen aus Sicht der Anwender viel zu teuer. Man überlege sich ein Produkt zu kaufen, in dem eine Dokumentation als optionaler Kostenfaktor ausgewiesen ist: Wer kauft dann noch die Dokumentation? Und wenn nur ein Medium umsonst ist und das zweite entsprechend des Aufwandes kostet, wer würde lieber Print, wer Online (natürlich nur als optimierte App!) wählen, vorausgesetzt er hat beides auch ausprobiert.

Umfragen zu Print oder Online, ohne Überprüfung der Kenntnis der konkreten Onlinelösung seitens der Befragten, kommt einer Manipulation gleich. Das Wissen über gedruckte Werke steckt ja quasi in unseren Genen. Und schließlich: Ein Usability-Problem mit einer App ist noch lange kein stichhaltiges Argument prinzipiell gegen Apps. Gleiches gilt natürlich für eine Beurteilung einer konkreten Paperableitung.

Mir kommt das vermeintlich sachlich begründete Festhalten am Papier heute genau so vor, wie das Verhalten der Nokia Manager 2007 gegenüber dem vermeintlichen Exoten Apple iPhone: „Nischenprodukt…“ tja dieser unsägliche Irrtum ist in die Geschichte eingegangen“. Und Apple hat die Revolution zwar eingeleitet, aber Weltmarktführer ist längst Samsung. Unabhängig davon sind alle modernen Smartphones und Tablets in der Usability faktisch iPhone Clones und damit optimal geeignet für Doku-Apps.

Der neue Blue Guide der Europäischen Kommission deutet zumindest vorsichtig an, dass ein Unterschied zwischen normalen Consumern und professionellen Endanwendern besteht und verlangt allerdings für beide die Zurverfügungstellung der Anleitung. Wenn die Texter nur ein wenig Bewusstsein von der sich wandelnden Praxis gehabt hätten, dann hätten sie z. B. analog zur russischen Maschinenrichtlinie für gewerbliche Nutzer durchaus klar und deutlich die alleinige elektronische Auslieferung der Dokumentation zulassen können und das wäre in den allermeisten Fällen auch der passende Ansatz.

Leider sind offenbar immer noch an solchen Werken vor allen Dingen Menschen beteiligt, die von der wirklichen Praxis der Dokumentationsnutzung keine oder wenig Ahnung haben. Ich traue mir das zu sagen, weil ich nahezu jede Woche in unterschiedlichsten Dokuabteilungen bin und auch Tests mit Endanwendern mache.

Alle bisherigen EU-Texte zur Dokumentation sind getragen vom Blick, was war denn bisher üblich und was würde ich als Autor der Richtlinie selbst wollen? Dazu ist fast immer noch das Bild im Kopf: CD-ROM oder Papier.

Zumindest in einer professionellen Produktumgebung liegt es am Hersteller und Betreiber, einen professionellen Nutzungskontext für die Nutzung der Produkte zu definieren. Und dort, wo das wirklich geschieht, Beispiel Flugzeug-Handbücher, ist das Papier längst wegdefiniert! Würde „unbedingte“ Papierpflicht gelten, wäre dieses Vorgehen der Airlines ja auch strafbar! Es wird endlich Zeit, logische, sachliche Überlegungen in diese emotional völlig überzogene „Papier-oder-elektronisch“ Diskussion einzubringen:

Unbestreitbar gilt: eine Anleitungsinformation muss für den Anwender in dem „sofortigen Zugriff“ sein, so dass er bei Bedarf beim Handeln am Produkt die benötigte Information mit „vertretbaren Aufwand“ nutzen kann. Das Schwierige dieser Thematik: Welcher Aufwand zumutbar ist, hängt vom konkreten Nutzungskontext ab, ist also nicht generell produkt- und zielgruppenunabhängig definierbar.

Die Behauptung, nur Papier biete immer den sofortigen Zugriff, entspringt einer Denkweise, die jenseits der tatsächlichen Praxis und jenseits des Standes der Technik liegt! Man könnte sehr wohl prüfen, wie nahe eine Papieranleitung tatsächlich an einer Maschine liegt und ob eine elektronische Anleitung nicht den besseren Zugriff bieten könnte. Das weiß auch die EU-Kommission, siehe z. B. Verordnung zu elektronischen Anleitungen für Medizingeräte.

Fazit

Kornelius R. Böcher

Ich finde die Erkenntnisse aus einer Anwenderuntersuchung hilfreicher, als die von Theoretikern am Schreibtisch ersonnen Vorgaben einer Norm. Besonders wenn Vorgaben nicht begründet, sondern platt gegeben werden. Wer die Geschichte z. B. der DIN EN 82079-1 ein wenig kennt, der wird eine differenzierte Meinung dazu entwickeln und nicht alles als von päpstlicher Autorität ausgesprochen hinnehmen. Es gibt neben den sinnvollen Inhalten auch solche, die hinterfragt werden dürfen und sollten. Es ist letztlich angebracht, jeweils zu schauen, welches Medium Sinn macht. Das hängt nicht nur vom Produkt ab, sondern auch von der Zielgruppe und vom Einsatzbereich. Es sollten dazu Empfehlungen erarbeitet werden, wann eine gedruckte Anleitung sinnvoll ist und wann eine Onlineanleitung. Oft wird es nötig sein, einen Mix aus verschiedenen Anleitungsformen und Medien anzubieten.

Dieter Gust

Meine Rede! Die Norm 82079 macht übrigens bewusst keine allzu detaillierten Angaben und ersetzt bewusst keine firmeneigenen Styleguides. Wir sollten daher auch nicht zu sehr nach Verbands-Styleguides schielen: Nach 82079 wird Dokumentation von Experten entwickelt. Die Experten sollen im Rahmen von Gesetztestexten und Normen und Firmen-Styleguides die konkrete Ausarbeitung einer Dokumentation selbst entscheiden.

Insofern sollte man sich daran erinnern, dass nur Gesetze bzw. EU-Richtlinien zunächst unumstößliche Vorgaben enthalten. Guides sind immer „nur“ Empfehlungen, und entstehen aus „zur Zeit des Schreibens wahrgenommenen und reflektierten Überlegungen“ (Zitat von mir selbst).

Deshalb hier noch die aus meiner Sicht wirklichen Randbedingungen zur Medienwahl für Technik-Dokumentation:

  • Kein Gesetz verlangt Papier! Gesetze halten sich raus, bestimmte Medien für Dokumentation zu fordern und das ist selbstverständlich richtig so. Es steht jedem frei, Papier für Dokumentation zu bevorzugen. Wer jedoch behauptet, Gesetze, Normen und Richtlinien verlangen unbedingt immer Papier, der bewegt sich nicht mehr auf einer logisch nachvollziehbaren und durch Gerichte belegten Argumentation.
  • Unbestreitbar gilt: eine Anleitungsinformation muss für den Anwender in dem „sofortigen Zugriff“ sein, so dass er bei Bedarf beim Handeln am Produkt die benötigte Information mit „vertretbaren Aufwand“ nutzen kann. Die Entscheidung für das passende Medium sollen daher die Dokumentationsexperten vornehmen und nicht Rechtsanwälte.
  • Weil im Maschinenbau z. B. die Papieraffinität nicht generell schon beseitigt ist, empfehle ich im Prinzip das Vorgehen ein wenig in Richtung Blue Guide: Das Sicherheitskapitel (so z. B. wie die tekom-Richtlinie es versteht) sollte man auf Papier beifügen, die weiteren Informationen je nach Nutzungskontext und Risikobewertung, die auch das Dokumentationsmedium berücksichtigt, in der Regel elektronisch.
  • Die Voraussetzung für die elektronische Dokumentationsnutzung und die alleinige Auslieferung einer elektronischen Anleitung müssen einem Kunden vor Produktkauf bekannt gemacht werden.
  • Eine umfassende Papierdokumentation würde ich als Sonderausstattung bepreisen und optional anbieten.

Kommentar schreiben

Kommentar schreiben

* Diese Felder sind erforderlich

Kommentare

Kommentare

Keine Kommentare